Die Zeitung Westfälische Nachrichten hat einen Artikel mit dem Titel „Das sind die Küken der Wahl“ veröffentlicht. Eines vorneweg: ich bin auch darunter. Der Journalist, der für den Artikel recherchiert hat, hatte auch mich für seine Recherche, weil ich offenbar unter den fünf jüngsten Kandidatinnen und Kandidaten für die Kommunalwahl 2014 in Münster bin, befragt. Bei den Grünen, so der Journalist, sei ich sogar der jüngste Kandidat überhaupt; und das im Alter von 32 Jahren. Ich habe mich gefragt, was der Grund dafür sein könnte, dass so wenig junge Leute für den Stadtrat kandidieren – und was man dagegen tun kann.
Nun ist B90/Die Grünen insgesamt ja eine durchaus junge Partei mit sehr erfolgreichen und aktiven Jugendorganisationen. Die jungen Grünen, die „Kakteen“ sind sehr aktiv; Campusgrün, die grüne studentische Jugendorganisation, hat die meisten Sitze im Studierendenparlament (9 von 31) der Universität Münster inne; ist also an einer Hochschule mit über 40.000 Studierenden die beliebteste politische Kraft. Wie kommt es dann, dass sich die jungen Menschen nur wenig für kommunale Belange interessieren und nur selten für einen Stadtrat kandidieren? Wo liegen die Probleme?
1. In der Jugendforschung werden zwei Beteiligungstendenzen von Jugendlichen festgestellt: (1) die Mitarbeit in Vereinen und Verbänden im direkten Umfeld und (2) die Beteiligung an informellen punktuellen Aktionsformaten ohne langfristige Bindung. Die langfristige politische Partizipation bleibt da auf der Strecke, denn dazu bedarf es nicht nur bedarfsgerechte Partizipationsangebote- und möglichkeiten, sondern auch die erforderliche Kompetenz; d. h. Sachwissen, Handlungswissen und letztendlich auch Motivation. Außerdem braucht es Selbstkompetenz, also das Wissen um die eigenen Interessen, die es einzufordern und zu verteidigen gilt. Wir haben also ein Ausbildungsproblem.
2. Viele junge Menschen, die in Münster leben, wissen nicht, ob sie ihren Lebensmittelpunkt nach Münster verlagern wollen und sind noch in der Findungsphase. Das ist vor allem bei Studierenden der Fall. Obwohl sie von den hohen Mieten betroffen sind, haben sie nicht das Gefühl, Münster mitgestalten zu können. Kommunale Themen werden an den Hochschulen, die beinahe einer Parallelgesellschaft gleichen, selten angesprochen – und das, obwohl Münster von dem Zustrom junger Menschen, den die Hochschulen gewährleisten, stark profitiert. Und Hochschulpolitik ist weitgehend Landespolitik. Die Herrin über Wohl und Wehe der Studierenden sind größtenteils Rektorin, ProfessorInnen, das BAFöG-Amt, das Prüfungsamt und die Eltern. Es gibt Studierende, deren einziger kommunaler Kontakt im ersten Semester stattfindet – und zwar mit dem Einwohnermeldeamt. Dann kommt lange nichts mehr. Selbst die Sparkasse wird selten als die kommunale Einrichtung wahrgenommen, die sie eigentlich ist. Von den Stadtwerken ganz zu schweigen. Wir haben also ein Wahrnehmungsproblem.
3. Die Amtszeit für den Stadtrat ist um ein Jahr verlängert worden und dauert nun sechs Jahre. D. h. wer im Alter von 18 kandidiert, ist am Ende der Legislaturperiode 24 Jahre alt. Wer gewählt wird, übernimmt parlamentarische Verantwortung, wird rechenschaftspflichtig und muss im Stadtrat, in Ausschüssen und in Beiräten die Interessen der Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen, mitarbeiten und Impulse liefern. Das ist viel Arbeit und setzt die Bereitschaft voraus, sich in Themen einzuarbeiten und unbekanntes Gelände zu betreten. Man wird von Vereinen, Organisationen und Verbänden zu Gesprächen eingeladen und nach seiner Meinung gefragt; die muss man aber erst einmal haben und sich erarbeiten. Nehmen wir beispielsweise das Thema Kindertagesstätten. Mittlerweile leben in nur 18 Prozent der Haushalte in Nordrhein-Westfalen Kinder. Die Kitas sind unterfinanziert. Darunter leiden nicht nur die Kinder und die Betreuung, sondern auch die Betreuerinnen und Betreuer. Die Kitas in Münster sind derart unterfinanziert, dass sie langjährig angestelltes Personal entlassen müssen, weil junge Kräfte preiswerter sind. Ein unmöglicher Zustand. Die Kitas sind mittlerweile gezwungen, in die Rücklagenkiste zu greifen; das berichteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gespräch mit grünen Politikerinnen und Politikern (Link: “Grüne fordern weiter mehr Geld für die Kitas”). Informationen wie diese, erreichen junge Menschen, die in der Ausbildung stehen, kaum. Stadtratsarbeit ist Ehrenamtsarbeit. Dafür bekommt man kaum Geld. Und wenn, gibt man viel davon an die Partei ab. Das ist bei vielen Parteien so üblich. Stadtratsarbeit kostet auch Zeit. Zeit, die junge Menschen entweder kaum haben, weil sie immer stärker gefordert werden, oder auch gar nicht erübrigen wollen, weil sie andere Prioritäten setzen.
Wer seine Zukunft gestaltet, verliert leider zu oft die Gegenwart aus dem Blick. Wir haben ein Geld- und Zeitressourcenproblem.
4. Die oftmals langwierigen Diskussions- und Entscheidungsprozesse in der formalisierten demokratischen Politik sowie das schlechte Image der Parteienpolitik stehen einer hohen Beteiligung von Jugendlichen in offiziellen Gremien entgegen und sorgen selten für Begeisterung. Wir haben ein Imageproblem.
5. Viele Daten und Fakten, die man dazu braucht, sind im Ratsinformationssystem der Stadt Münster verborgen. Und bei den Ratssitzungen, an denen ich oft teilgenommen habe, sind junge Menschen nur selten vertreten bzw. größtenteils nur dann, wenn sie von einer Bildungseinrichtung dorthin organisiert werden oder an der Uni eine Arbeit über kommunalpolitische Prozesse abliefern sollen. Ich sehe auch selten Vertreterinnen und Vertreter von Parteijugendorganisationen. Und kaum einer erklärt den Zuschauerinnen und Zuschauern die unterschiedlichen Farben der Vorlagen. Selten besprechen sie Tagesordnungspunkte im Vorhinein. Die Sitzordnung im Stadtrat ist uneinsichtig. Wäre da nicht ein Bildschirm, der Namen und Partei der Rednerin bzw. des Redners ausweisen würde; die Menschen hätten keine Ahnung, wer da eigentlich spricht. Und da die Tagesordnungen nur in begrenzter Zahl ausliegen, wissen viele auch nicht, worüber gesprochen wird. Wir haben ein Transparenzproblem.
Vielen jungen Menschen würde es nie einfallen, Mitglied in einer Partei zu werden oder sich in einem politischen Gremium zu engagieren. Viele Jugendliche lernen politische Gremien erschreckend selten von innen her kennenlernen. Deshalb ist der Jugendrat der Stadt Münster so wichtig, mit dem ich in den vergangenen Wochen und Monaten zusammenarbeiten durfte. Dort lernen sie wie politische Strukturen in Stadtparlamenten funktionieren: dass Protokolle geführt und Abstimmungsprozesse moderiert und eingeleitet werden müssen; dass es Vorsitzende und Öffentlichkeitsarbeit gibt; wie man eine Kampagne organisiert und Anträge an den Stadtrat stellt; dass man zu Kompromissen bereit sein muss und Politik – vor allem in demokratischen Gemeinwesen – ein Prozess der Geduld und der kleinen Schritte ist und nur selten der große Wurf gelingt.
Zu den Lösungen: Die Parteien in Münster und dazu gehören auch die Grünen, müssen zugeben, dass sie, was die kommunale Jugendförderung betrifft, viele Fehler machen. Dabei sind die Themen Klimawandel und Energiewende den Jugendlichen mehrheitlich wohl bekannt. Schon vor der atomaren Katastrophe in Fukushima hielten mehr als die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland die Förderung erneuerbarer Energien für besonders wichtig. Themen wie lokale Verkehrspolitik und Ähnliches entziehen sich dem jugendlichen Aufmerksamkeitsbereich. Deshalb müssen junge Menschen besser an kommunale Themen und damit an die Stadt Münster und ihre Institutionen heranführen. Und zwar mit den Themen, die sie wirklich interessieren. In dem Schulen sollte ein Demokratie- und Nachhaltigkeitsprogramm aufgelegt werden, dass den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, Demokratie und Nachhaltigkeit zu leben und wahrzunehmen. Ob sich Jugendliche engagieren oder nicht, hängt – statistisch gesehen – stark damit zusammen, ob sie in der Schule mit Bildung über nachhaltige Entwicklung in Berührung gekommen sind oder nicht. Und Prinzipiell gilt: je höher die Bildung desto höher ist die Partizipationsbereitschaft. Leider fühlen sich 68 bis 90 Prozent der Jugendlichen in Deutschland von der Politik nicht ernst genommen und fühlen sich über Partizipationsinstrumente in der Kommune schlecht informiert. Außerdem Fehlen positive Erfahrungen im Umgang mit Politik. Deshalb sollten die Parteien junge Menschen häufiger nach ihrer Meinung fragen und beispielsweise mit Hilfe eines MentorInnenprogramms die Werkzeuge kommunaler Teilhabe in die Hand geben, die sie brauchen, um ihre Interessen zu vertreten. Strukturen wie der Jugendrat sollten ausgebaut werden, damit mehr junge Menschen bereit und gerüstet sind, Verantwortung zu übernehmen und unsere Parlamente – vor allem in Zeiten eines bedenklichen demografischen Wandels – nicht überaltern. Die Stadt Münster sollte Jugendlichen mehr Mittel zugestehen, über die sie frei und selbstständig verfügen können. Demokratische Jugendförderung sollte in der Stadtgesellschaft und innerhalb der Parteien stärker institutionalisiert werden. Das nebeneinander zwischen Schülerschaft, Studierendenschaft und der übrigen Stadtgesellschaft sollte ein verflochtenes Miteinander sein, so dass wir bei der nächsten Kommunalwahl im Jahr 2020 junge und engagierte Kandidatinnen und Kandidaten mit frischen Ideen in den Stadtrat wählen können.
Es hat mir wirklich viel Freude bereitet, mit Mitgliedern des Jugendrates zusammenarbeiten und mit ihnen den Versuch zu wagen, die Wahlbeteiligung junger Menschen in Münster zu steigern. Hier habe ich Münsteranerinnen und Münsteraner vorgefunden, die keine Probleme suchen, um Ideen und Vorschläge zu zerreden, sondern konstruktiv Lösungen suchen, damit Demokratie auch in der Kommune gelingt.