Ende Dezember 2013 habe ich eine Seite mit Literaturhinweisen begonnen, die mittlerweile so lang geworden ist, dass die Ladezeit einfach zu lange dauert. Ich habe die Seite deshalb umstrukturiert. Ab sofort werden Literaturtipps als Beiträge erscheinen und unter der Kategorie “Meine Lesetipps” abgelegt. Viel Spaß beim Stöbern und vor allem: beim Lesen.
Du bist, was du liest.

Januar 2020 (I) / Nitsch, Cornelia: Vornamen – von beliebt bis ausgefallen, Gräfe und Unzer Verlag, München, 2016.
Wie meine Eltern auf den Namen Jörg kamen, weiß ich gar nicht. Am besten mal nachfragen. Ob sie wohl auch ein Vornamensbuch von einem Kumpel geschenkt bekommen haben? Ich kann nicht genau sagen, ob es die Auswahl an sich leichter gemacht hat – wir haben wohl 30 Namen gewältzt, aber den Namen unseres Kindes haben wir darin letztlich gefunden.

Dezember 2019 (II) / Flanagan, Geraldine Lux: Die ersten neun Monate des Lebens, Rowohlt Sachbuch Verlag, Reinbek, 1963.
Es ist spannend zu lesen, wie sich das Wissen über Schwangerschaft und Geburt in den vergangenen Jahrhunterten entwickelt hat. Immer wenn ich in die Vergangenheit der Wissenschaft blicke, erinnert es mich daran, dass auch unser aktueller Wissensstand nur vorübergehend ist. Ich habe durch die Lektüre dieses Buches viel gelernt und kann es – auch wenn es schon etwas älter ist – als Einstieg in die Elternrolle nur empfehlen.

Dezember 2019 (I) / Dornes, Martin: Die frühe Kindheit – Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M., 2006.
Werdende Eltern informieren sich gerne über das, was auf sie zukommt. So auch ich. Mir war es wichtig, zu erfahren, wie die psychische Entwicklung eines Kindes von der ersten Sekunde an verläuft, so dass ich ihm mit Verständnis und Rücksicht begegnen kann. Wer wissen will, wann ein Kind merkt, wo es selbst aufhört und die Welt anfängt, wann es versteht, dass ein Gegenstand nicht verschwunden ist, auch wenn es ihn nicht sieht und ab welchem Lebensmonat es beispielsweise Ärger empfinden und zielgerichtet Wünsche äußern kann, der/die lese dieses Buch.

November 2019 (II) / Franzen, Jonathan: Die Korrekturen, Rowohlt Verlag, Hamburg, 2013.
Die Familie Lambert besteht aus Enid und Alfred und ihren drei Kindern Denise, Gary und Chip. Es ist eine eindringliche Geschichte von der Unmöglichkeit das eigene Leben zu Leben. Alle beteiligten scheinen entweder von etwas Getriebene oder von etwas Weglaufende zu sein. Enids verzweifelter Versuch, alle Familienmitglieder zu einem Weihnachten zu versammeln, ist rührend, aber auch egoistisch und natürlich zum Scheitern verurteilt. Alfred ist mittlerweile senil, aber zu stolz es zuzugeben. Seine Härte ist seine Schwäche. Denise, Gary und Chip ringen mir ihrem Leben und drohen – jede/r auf ihre Weise – den Kampf zu verlieren. Ein Meisterstück. Ich habe es verschlungen.

November 2019 (I) / Calvino, Italo: Ein General in der Bibliothek, dtv Verlag, München, 2017.
Dieser Band, der Fabeln und Erzählungen, aber auch Dialoge umfasst, ist ideal für anspruchsvolle Leser*innen, die immer mal wieder eine kurze Geschichte lesen und sich nicht von einem 400 Seitenroman erschlagen lassen möchten. Als Buchhändler würde ich sagen: das ideale Geschenk zu Weihnachten. Die Kurzgeschichten sind wie ein guter Animationsfilm der Pixar-Studios: vordergründig eine leicht zu verstehende Geschichte und im Hintergrund eine tiefere zum Nachsinnieren einladende Aussage, die packt, aber nie plakativ und eindimensional daherkommt. Wer die Romanen Calvinos nicht mochte, sollte es mal mit seinen Kurzgeschichten versuchen.

Oktober 2019 (II) / Billig Michael: Schwarz, Rot, Müll. Die schmutzigen Deals der deutschen Müllmafia, Herder Verlag, München, 2019.
Als ich erfuhr, dass es allein in Brandenburg 132 illegale Mülldeponien gibt, konnte ich es zuerst nicht glauben. Akribisch zeigt dieses Buch auf, wie Entsorgungsfirmen Müll von Firmen übernamen, eine rechtmäßige Entsorgung vortäuschten, um ihn dann illegal zu “verklappen”. Ein Millionengeschäft, dass durch häufigere Kontrollen von LKW-Ladungen beherrschbarer wäre. Weitere Infos zum Thema gibt es auf https://muellrausch.de/

Oktober 2019 (I) / Saramago, José: Das steinernde Floß, Rowohlt Verlag, Hamburg, 1997.
Was würde passieren, wenn sich aufgrund einer unbekannten Ursache die iberische Halbinsel vom europäischen Festland löst und in den Atlantik treibt? Wie verhalten sich die Menschen dort, während die “Insel” auf Brasilien zutreibt? Und wie alle Staaten drumherum? Ein Parabel-Meisterstück über diplomatische Verwicklungen, Aberglauben und in Zeiten des Brexit erschreckender Weise wieder lesenswert.

September 2019 (II) / Saramago, José: Die Stadt der Sehenden, btb Verlag, München, 2005.
Stell’ dir vor, es sind Wahlen und alle wählen einfach “weiß”. Ohne sich abzusprechen. Einfach so. Was würde das über eine Demokratie aussagen? Was über die Regierung? Und wie würden die regierenden Parteien darauf reagieren? Eine weiteres tolles Buch von einem meiner Lieblingsautoren und eine herausragende Parabel darüber, was passiert, wenn eine herrschende Klasse den Bezug zur Bevölkerung vollkommen verloren hat.

September 2019 (I) / Prantl, Heribert: Gebrauchsanweisung für Populismus, Ecowin Verlag, Salzburg, 2017.
Dass Populismus nicht gleich Populismus ist, beschreibt Heribert Prantl fundiert in diesem kleinen Büchlein. Denn ist ist schon ein Unterschied, ob man vereinfacht, um einen Sachverhalt möglichst vielen Menschen zu erklären und sie zu informieren oder ob man verallgemeinert, um Minderheiten zu diskreditieren und auszugrenzen. Ohne Leidenschaft und der Lust an Sprache ist eine lebendige Demokratie nicht möglich. Geschweige denn, eine begeisternde.

August 2019 (II) / Prantl, Heribert: Vom großen und kleinen Widerstand – Gedanken zu Zeit und Unzeit, Süddeutsche Zeitung Edition, München, 2018.
Manchmal gibt es Situationen, die verlangen mehr als routiniertes Handeln oder Gehorsam. In diesem Buch erinnert Heribert Prantl an die kleinen Taten, die Widerstände, die Großes bewirken, die aus Zweifel entstanden und geleitet sind von ethisch-moralischem Handeln. Die Rede ist von dem Buchhalter, der seinen Apotheker angezeigt hat, weil der auf kosten von anderen Krebsmedikamente panschte. Oder von dem Lastwagenfahrer, der mal nachdachte und so verhindert hat, dass Gammelfleisch in den Handel kommt. Also unter anderem von Leuten, die das Richtige taten und ihren Job verloren haben. Deswegen. Die Rede ist aber auch von Fritz Bauer, von den Geschwistern Scholl und Edward Snowden; also von Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, weil sie ihrem Gewissen folgten. Je mehr wir diese Menschen, die uns eigentlich dienen, ignorieren und ihnen nicht helfen, desto höher wird der Preis sein, den deshalb zahlen müssen.

August 2019 (I) / Habeck, Robert: Wer wir sein könnten – Warum unsere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache braucht, Kiepenheuer und Witsch, Köln, 2018.
Bedenke, was du sagst, denn jedes Wort ist eine Tat. In diesem buch geht es nicht nur um die Macht der Sprache, die Wirklichkeit schafft, sondern auch um die Frage, wie wir Diskussionen führen sollten, um für alle das beste herauszuholen. Wie wir dem Rechtspopulismus uns seinem Versuch, Begriffe umzudeuten, begegnen können, und darüber, was der Nationalismus mit der Romantik zu tun hat. Wer das gelesen hat, weiß, dass diejenigen, die rechten Kräften sprachlos gegenüberstehen und die Auseinandersetzung scheuen, ohnmächtig sind. Und wer will das schon sein.

Juli 2019 (II) / Hesse, Hermann: Die Märchen, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1975.
Märchen sind oft getarnte Manipulationsversuche. Im günstigsten Fall einfach nur Ratgeber. Aber fast immer Parabeln. Eine meiner Lieblingsparabeln aus den “Märchen” ist ‘Die Stadt’. Ein Muss für alle Kommunalpolitiker*innen, Architekt*innen und Bauunternehmer*innne. Aber vor allem Historiker*innen. Denn selbst die aufblühende Stadt ist irgendwann wieder Ruine. Und die Natur holt sich alles wieder zurück.

Juli 2019 (I) / (Hrsg.) Albrecht, Jan Phillip, Peter, Tobias: Europa Rechtsaussen – Die radikale Rechte im Europäischen Parlament nach den Europawahlen 2014, European Parlament, Brüssel, 2015.
Dieses Buch informiert dich über die Geschichte und Herkünfte der RECHTEN Parteien im Europaparlament. Zugegeben nach 2014, aber viele davon gibt es ja immernoch. Wie sie agieren, was ihre Masche ist und wie sie in den einzelnen Staaten Europas agieren, erläutert dieses Büchlein. Und es liefert Strategien gegen Rechtsradikalismus. Wichtigster Punkt dabei: ignorieren hilft nicht.

Juni 2019 (II) / (Hrsg.) Wertheimer, Jürgen und Zima, Peter V.: Strategien der Verdummung – Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft, C.H. Beck, München, 2002.
Es gibt Fernsehen, Kino, Netflix, PC-Spiele, Zeitungen, Zeitschriften, Jahrmärkte, Konzerte, und vieles mehr. Wer soll das alles ansehen, alles konsumieren? Oder werden wir von diesen Medien konsumiert? Wo ist die Grenze? Wo beginnt die Phase, die uns nicht weiterbringt? Wann das Hamsterrad? Denken wir oder werden wir gedacht?

Juni 2019 (I) / (Hrsg.) Dutschke-Klotz, Gretchen, Miermeister, Jürgen, Treulieb, Jürgen: Rudi Dutschke – Die Revolte – Wurzeln und Spuren eines Aufbruchs, Rowohlt, Hamburg, 1983.
Was mir an Rudi Dutschke (unter anderem) imponiert, ist, wie er mit dem Mann umging, der ihn angeschossen hat. Seine Liebe zu großen Denker*innen und seine Absicht, politische Erkenntnisse in der Gesellschaft zu realisieren. Seinen Widerstand gegen Anti-aufklärerische Kräfte und seine Unrast. Ich hätte ihn gerne getroffen. Denn wir hätten uns herrlich gestritten.

Mai 2019 (II) / Oldland, Nicholas: Der große Bär, Jacoby u. Stuart, Berlin, 2009.
“Es war einmal ein großer Bär…” Mit diesen Worten beginnt das liebenswerte Bilderbuch von Nicholas Oldland. Eine Widerstandsgeschichte, die die Lebenseinstellung eines Tieres illustriert und einen herzerweichenden Vorschlag macht, wie man mit Umweltsünder*innen umgehen sollte. Ich will nicht zu viel verraten. Aber anschauen lohnt sich.

Mai 2019 (I) / Hackl, Erich: Auroras Anlass, Diogenes Verlag, Zürich, 1989.
Die Geschichte einer Frau, die versucht, eine Tochter zu haben und zu erziehen, die mehr erreicht als sie, die emanzipierter ist als sie, die klüger, politischer und erfolgreicher ist als sie. Die ihr eigenes Geschenk an die Menschheit – und insbesondere die Frauen – wird, sie dann aber enttäuscht und der Anlass eines Mordes wird, ist mein Anlass, mich mehr mit Erich Hackl zu beschäftigen. Ein tolles Buch. Ein Gesellschaftsromänchen erster Güte.

April 2019 (II) / Dutschke, Rudi: Geschichte ist machbar – Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens, Wagenbach Verlag, Berlin, 1992.
Ich bin ein großer Fan sozialer Bewegungen und war von vielen schon Teil. Die 68er-Bewegung zu verstehen, versuche ich des ofteren und ziehe hierfür gerne Bücher zu rate. Warum also nicht an eine der Quellen gehen, also zu Rudi Dutschke. Und ich muss sagen, wäre er nicht so intellektuell verkopft gewesen, hätte er weniger akademisch und eher volkstümlich argumentiert, hätte er mehr erreicht.

April 2019 (I) / (Hrsg.) Breton, André: Anthologie des Schwarzen Humors, Rogner und Bernhard, München, 1979.
Wer lesen möchte, wie Menschen in Irland ihren Kinderreichtum gewinnbringend vermarkten können, warum Mord eine Kunstform ist oder wie man über einen Besenstiel meditieren kann, ist in diesem Sammelband des ganz speziellen Humors gut aufgehoben. Ein Sammlerstück, ein Sammelband mit Texten von de Sade, Kafka, Lichtenberg, Nietzsche, Picasso und Swift.

März 2019 (II) / Shalev, Zeruya: Liebesleben, Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin, 2001.
Da ist endlich mal ein Roman, der eine Liebe zeigt, wie auch sein kann: zerstörerisch, eklig, einsperrend, obsessiv. Also lebendig. Es erweckt im Lesenden die Frage, was wohl erstrebenswerter ist: das bequeme, ordentliche, sichere. Oder das leidenschaftlich, unvorhersehbare, atemlose. Kann das jedem passieren? Ich fürchte es und hoffe es zugleich.

März 2019 (I) / Whitman, Walt: Grashalme, Diogenes, Zürich, 1985.
Dieses Epos ist in einer Zeit, in der sich viele Menschen auf ihre Nationalität besinnen, wieder zeitgemäß geworden. Gerade weil Whitman das Individuum genauso besingt wie das Miteinanderverwobensein aller Menschen, Pflanzen, Tiere. Mögen die Künstler*innen dieser Welt wieder Whitman lesen und zum Ziele haben, diese Verwobenheit den Menschen sicht- und spürbar zu machen. Das brauchen wir wirklich dringen.

Februar 2019 (II) / (Hrsg.) Daniela Gioseffi: Falsche Helden, Suhrkamp, Frankfurt, 1996.
In diesem Textband, in den sich Frauen wie Hannah Arendt, Bertha von Suttner, Margaret Atwood, Rosa Luxemburg, Christa Wolf, Simone de Beauvoir, versammeln ist alles andere als friedlich. Er ist eine Kampfansage an den Krieg. Der Hinweis, dass es vor allem die Frauen sind, die unter der staatlich organisierten männlich-toxischen Machtdemonstration leiden. Entlarvend. Abwechslungsreich. Entschlossen. Bravo!

Februar 2019 (I) / Seghers, Anna: Das siebte Kreuz, Suhrkamp, Frankfurt, 1999.
Als in Münster die Platanen fielen und sich eine Initiative namens Platanenpower gründete musste ich an diesen 1942 in den USA erschienenen Roman denken. Denn Platanen spielen darin eine wichtige, wenn auch unrühmliche Rolle. “Dieses Buch ist den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands gewidmet”, so die Autorin. Denn damals wie heute gilt: zusammen kann man jede Form des organisierten UnRECHTS bekämpfen.

Januar 2019 (II) / Neruda, Pablo: Liebesgedichte, Luchterhand, München, 2002.
Ist schon lange her, dass ich diesen Gedichtband in der Hand hatte. Das weiß Büchlein ist gelb geworden. Hat schon einige Umzüge mitgemacht und ist voller Erinnerungen. Als ich es durchblättere, stelle ich fest, dass sich die Begeisterung, die ich einst für Nerudas Gedichte verspürte, nicht einstellen will. Offenbar haben auch Liebesgedichte “ihre” Zeit.

Januar 2019 (I) / (Hrsg.) Konzeptwerk Neue Ökonomie u. DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaft): Degrowth in Bewegung(en), oekom, München, 2017.
Was ist Degrowth und welche Wege geht diese Bewegung? Wie kann eine Gesellschaft ohne Wachstumszwang gelebt werden, ja, zukünftig aussehen? Das “gute Leben” hat viele Gesichter und Ausprägungsformen. Wer Dinge lieber selber repariert, als sie wegzuwerfen, wenn mal was kaputt ist, gehört schon längst dazu. Wer kein Fleisch ist oder gar vegan lebt, einen Bauernhof hat und sich selbst versorgt, ebenso. Wer seinen eigenen Garten pflegt und die Bienen anlockt auch schon längst. Dass die Degrowth-Bewegung wächst, zeigt dieses Buch..

Dezember 2018 (II) / Timm, Uwe: Johannisnacht, Kiepenheuer und Witsch, Köln, 1996.
“Was ist der Unterschied zwischen einem Ossi und einem Türken? Der Türke spricht deutsch und hat Arbeit.” Es sind Witze wie diese, die manchmal mehr über das Verhältnis von Ost- und Westdeutschland verraten als so manches Sachbuch es vermag. Uwe Timms Geschichte über die Recherche eines Mannes über die kulturelle Geschichte und Bedeutung der Kartoffel, ist dabei nur die Rahmenhandlung, durch die genau dieses Verhältnis genauer beleuchtet wird. Das bei dieser Recherche Einiges schief geht, liegt auf der Hand. Ich jedenfalls werde in Zukunft drauf achten, welche Kartoffelsorte ich da eigentlich esse.

Dezember 2018 (I) / Houellebecq: Michel: Unterwerfung, DuMont Buchverlag, Köln, 2015.
Ist es nicht so, dass unsere Werte erst dann erst richtig auf dem Prüfstand stehen, wenn wir in Versuchung sind, sie zu verraten? Wenn wir ein unmoralisches Angebot bekommen, dass so verführerisch ist, dass wir darüber erst mal “eine Nacht drüber schlafen” müssen? Diese Geschichte eines Universitätsprofessors, der parabelhaft für eine ganze kulturelle Epoche steht, wirft diese Frage auf. Wie schnell und wofür würden wir europäische Kulturgüter wie die Aufklärung, dei Trennung von Kirche und Staat und emanzipative Errungenschaften wie Frauenrechte über Bord werfen? In H. Buch “Unterwerfung” ist es Frankreich, dass sich dem “Islam” sozusagen “unterwirft”. Das hat in dem Buch viele Gründe und einer ist, dass viele Menschen es sehr angenehm finden, auf Freiheit zu verichten und die Ansprüche der modernen Zivilisation hinter sich zu lassen. Von solchen “klaren Verhältnisses” möchte ich persönlich lieber verschont bleiben. Selbst wenn ich dann drei Ehefrauen haben dürfte.

November 2018 (II) / Houellebecq: Michel: Karte und Gebiet, DuMont Buchverlag, Köln, 2012.
Was ich an diesem Buch sehr schätze, ist nicht nur, dass H. beweist, dass er sich nicht zu schade ist, sich in einem Roman selbst umbringen zu lassen, sondern auch, wie clever und analytisch H. den modernen Kunstmarkt beschreibt. Warum ist der Künstler in diesem Roman so erfolgreich? Weil er unbewusst – aber angeleitet von Marketingleuten – die Bedürfnisse von Unternehmen und Kapitalist*innen befriedigt. Das macht seine Kunst marktfähig und schraubt den Preis dafür nach oben. Dass ich dieses Buch zufällig gelesen habe, als Bansky sein Werk während einer Auktion öffentlich durch einen Schredder jagte, fand ich irgendwie passend. Momment? Ist es dadurch nicht noch teurer geworden?
November 2018 (I) / Houellebecq: Michel: Elementarteilchen, DuMont Buchverlag, Köln, 1999.

Eigentlich ist das die Geschichte zweier Brüder, die, geprägt durch ihre Kindheitserfahrungen, das Glück suchen und dabei scheitern. Der eine sexgeil und verzweifelt, der andere klinisch organsiert und bedürfnisarm. Da ich ungewöhnliche “Helden” sehr mag, eine Schwäche für Tragik entwickelt habe und eine kompromisslose Schreibe zu schätzen weiß, hat H. bei mir offene Türen eingerannt. Ich zitiere aus dem Roman: “Man kann die Ereignisse jahrelang mit Humor hinnehmen, aber letztlich bricht das Leben einem doch immer das Herz.”

Oktober 2018 (II) / Feuchtwanger, Lion: Jud Süß, Neuer Verlag, München, 1950.
Was ich an Lions Feuchtwangers Darstellung der württembergischen Gesellschaft so großartig finde, ist, wie gnadenlos sie ist. Kein gutes Haar, nirgends und an niemandem. Josef Süß Oppenheimer ist Mitläufer, Täter, Kapitalist. Er profitiert von den Machenschaften des Herzogs und wird letztlich selbst Opfer der Vorurteile einer höchstgradig antisemitischen Gesellschaft. Und schließlich erfährt er selbst das Leid, das er mehrfach anderen zugefügt hat. Selten hat mich eine Geschichte so schön angeekelt. Ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen.

Oktober 2018 (I) / De Botton, Alain: Wie Proust Ihr Leben verändern kann – Eine Anleitung, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2000.
Was wie ein Lebensratgeber daherkommt, ist auch einer, aber ein cooler. Anhand der Lebensphilosophie von Marcel Proust erläutert De Botton “Wie man richtig liest”, “Wie man sich Zeit nimmt”, “Wie man erfolgreich leidet”, außerdem “Wie man seinen Gefühlen Ausdruck verleiht”, “Wie man Freundschaften pflegt” und “Wie man sehen lernt”. Und ich muss sagen: “Mit hat es geholfen”.

September 2018 (II) / Meyerhoff, Joachim: Alle Toten fliegen hoch, KiWi Verlag, Köln, 2015.
Manchmal muss man gleich ein weiteres Buch eines Autoren bzw. einer Autorin hinterherschieben, damit man ihn/sie besser kennenlernen kann. Und man will ja schließlich wissen, ob diese Gefühl der Nähe, das man beim ersten Lesen gegenüber den Schreibenden empfunden hat, nur Zufall war, oder ob mehr dahinter steckt. In diesem autobiografischen Roman erzählt Joachim Meyerhoff von seinem Auslandsaufenthalt in den USA. Zwischen Gastfamilie, Schule, Basketball und neuer Liebe erlebt er einiges Berichtenswertes. Ich erfreute mich sehr daran.

September 2018 (I) / Meyerhoff, Joachim: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war, KiWi Verlag, Köln, 2015.
Joachim ist in einer Heilanstalt für psychisch beeinträchtigte Menschen aufgewachsen. Sein Vater war der Direktor. Viele Bewohner*innen seine Freunde. Dieses Buch ist ein heiterer und oft auch melancholischer Blick auf eine ganz besondere Kindheit. Meyerhoff, der heute Schauspieler ist, beschreibt die Perspektive eines Kindes auf die Welt glaubwürdig, witzig und schonungslos. Vieles steht zwischen den Zeilen. Zauberhaft!

August 2018 (II) / Jonas, Bruno: Gebrauchsanweisung für Bayer, Piper Verlag, München, 2005.
Bayern ist eine wohlhabende Wirtschaftsmacht und strahlt kulturell in die ganze Welt aus. Ob Fußball oder Oktoberfest – Bayern setzt Maßstäbe. Doch trotz aller bayrischen Erfolgsmeldungen kann es die CSU nicht lassen, rechtspopulistische und fremdenfeindliche Töne anzustimmen. Auch Polizeigesetze, die manche Verfassungsexpert*innen als höchst gefährlich einstufen, kommen aus Bayern. Doch warum das alles? Was bringt die bayrische Kultur dazu, derart – trotz aller Erfolge – um ich zu schlagen? Ich habe Antworten in diesem Buch gesucht und ich glaube, auch gefunden.

August 2018 (I) / Acosta, Alberto: Buen Vivir – Vom Recht auf ein gutes Leben, oekom Verlag, München, 2015.
Acosta Espinosa war 2007/08 Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors und 2007 Minister für Energie und Bergbau. In seinem Buch beschreibt er die Grundzüge der Idee eines “buen virir”, also eines “guten Lebens” jenseits von übermäßigem Konsum. Er fordert die Menschen auf, ähnlich wie indigene Bevölkerungsgruppen in Einklang mit der Natur zu leben. Das bedeutet nicht, im Wald zu leben, sondern den Respekt für den Planeten Erde und für die natürlichen Lebensgrundlagen in die Art des Lebens und des Wirtschaftens einfließen zu lassen.

Juli 2018 (II) / Illies, Florian: 1913 – Der Sommer des Jahrhunderts, S. Fischer Verlag, Frankfürt am Main, 2013.
Dieses Buch ist etwas, das ich als zeitspiegelnde Anekdotensammlung nennen möchte. Leicht zu lesen bietet es manche spannende Passage, kreiert aber bei weitem nicht das Bild eines “Jahrhundertsommers”, das der Titel suggeriert. Ja, in dieser Zeit haben viele kluge Köpfe gelebt und geliebt. Sie haben ihre Werke erschaffen und kulturelle Umbrüche provoziert. Haben die Grundlagen ihrer späteren politischen Entscheidungen gelegt und waren allesamt Speilball ihrer Zeit. Den 1. Weltkrieg verhinderten sie nicht. Aber vielleicht konnten sie das auch nicht.

Juli 2018 (I) / Gavalda, Anna: Zusammen ist man weniger allein, Hanser Verlag, München, 2005.
Eine Gruppe gesellschaftlicher Außenseiter schließt sich zu einer außergewöhnlichen Wohngemeinschaft und erkennt, dass es besser ist gegen die Widrichkeiten des Lebens zusammenzustehen und Probleme gemeinsam anzugehen. Was hier erst einmal kitschig klingt, ist wunderbar erzählt. Ich jedenfalls bin aus dem schmunzeln selten herausgekommen.

Juni 2018 (II) / Precht, Richard David: Noahs Erbe – Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen, Rotbuch Verlag, Hamburg, 1997.
Wer wissen möchte, wie sich das Verhältnis von Mensch und Tier philosophisch begründet und im Verlauf der Menschheitsgeschichte entwickelt hat, erfährt es hier von Starphilosoph Precht. Precht deckt die Widersprüche der Erdengemeinschaft von Mensch und Tier klug und schonungslos auf. Ebenso erläutert er, welchen Beitrag die monotheistischen Weltreligionen bei der Entfremdung des Menschen vom Tier gespielt haben. Er appelliert angesicht der zahlreichen neuen Erkennntisse über das Innenleben von Tieren, dafür, Tiere einen angemessenen Platz in unserer Gesellschaft zuzugestehen. Dabei diskutiert er die Frage nach der Legitimität der Jagd, des Fleischverzehrs, von Zoos und von Tierversuchen gründlich durch; überlässt es aber auch oft den Leserinnen und Lesern, daraus Konsequenzen zu ziehen.

Juni 2018 (I) / Stone D. Christopher: Haben Bäume Rechte? Plädoyer für die Eigenrechte der Natur, thinkOya, Klein Jasedow, 2013.
Ich möchte mich verstärkt mit dem Thema “Naturrechte” beschäftigen. Deshalb habe ich diesem Klassiker gewidmet, der fordert, das rechtliche Verhältnis des Menschen zur Natur grundlegend zu überdenken. Ich finde: nach der weitgehenden Abschaffung der Sklaverei, der Einführung von Kinderrechten und rechtlichen Gleichstellung der Frau wäre es ein weiterer zivilisatorischer Fortschritt, wenn wir auch der Natur Rechte zugestehen würden. Es ist notwendig für unsere inneres aber auch für das ökologische Gleichgewicht.

Mai 2018 (II) / Bosselmann, Klaus: Im Namen der Natur – Der Weg zum ökologischen Rechtsstaat, Scherz Verlag, Bern, 1992.
Wenn wir die Natur, unsere Mitwelt, nicht vor uns selbst schützen, werden wir untergehen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Aber wie können wir ökologische Regeln sinnvoll in den Staat einlassen, so dass sie eine ganzheitliche Bindungswirkung entfalten? Wir haben einen demokratischen Rechtsstaat, einen sozialen Rechtsstaat… warum nicht auch einen ökologischen Rechtsstaat einfordern, der den Menschen ermöglicht, im Namen der Natur tätig zu sein, Rechte der Mitwelt einzuklagen und die Hegemonie der Menschheit ein Stück weit durchlässig zu machen? Was wäre, wenn sich alle umwelt- und Nachhaltigkeitsbewegten hinter dieser Idee vereinigen würden?

Mai 2018 (I) / Alt, Franz: Agrarwende jetzt – Gesunde Lebensmittel für alle, Goldmann Verlag, München, 2001.
Was ich an Franz Alt sehr schätze, ist die Energie und den Drive, mit dem er seine politischen Thesen vertritt. Polemisch aber konkret entzaubert er die Mythen der Landwirtschaftslobby und konfrontiert die Konsument*innen mit der Frage, ob sie auch weiterhin auf günstige ökologisch und gesunde Lebensmittel verzichten und das Tierleid und die rücksichtlose Ausbeutung von Tier und Boden ethisch weiter dulden wollen.

April 2018 (II) / Arnold, Heinz Ludwig: Querfahrt mit Friedrich Dürrenmatt, Diogenes Verlag, Zürich, 1998.
Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch, die beiden großen Schweizer, werden meist in einem Atemzug genannt. Dabei sind die grundverschieden. Wie sich Frisch und Dürrenmatt in Stil und Intention unterscheiden – was sie inhaltlich und persönlich voneinander trennt – zeigt dieses Büchlein. Ludwig zeichnet das Bild zweier Charakterköpfe, die uns heute, in einer Zeit, in der identitäre Minderwertigkeitskomplexe und leichsinniger Fortschrittsglaube Hand in Hand gehen, schmerzlich fehlen.

April 2018 (I) / Raddatz, Fritz J.: Tucholsky – Eine Bildbiographie, Kindler Verlag, München, 1961.
Kurt Tucholsky war einer der meist gehässten Autoren der Nazionalsozialist*innen. Also muss er wohl was richtig gemacht haben. In diesem Bildband, den ich in einer Biblitohek des Deutschen Gewerkschaftsbundes entdeckte, erklärt kein geringerer als Raddatz, was das war. Ich hätte diesen distanzierten, intelligenten und politischen Kopf gerne kennengelernt. Er hat mir beigebracht, dass Heimat ein Wert an sich ist, den man nicht den Arschlöchern dieser Welt überlassen darf.

März 2018 (II) / Du Maurier, Daphne: Meine Cousine Rachel, Bertelsmann Lesering, Rheda-Wiedenbrück, 1954.
Es gibt eine Form von Grusel, die einen beschleicht, wenn man den Schrecken nur schemenhaft erahnt. Wenn etwas gewohntes sich plötzlich so verändert, dass es sich umhaut und du den Boden unter den Füßen verlierst. Wenn du einen Betrug erlebst, mit dem du nicht rechnest, weil er von einer Person stammt, auf die du dich verlassen hast. Rückhaltlos und vielleicht voller Liebe. Daphne Du Maurier kann etwas, das ich bisher nur bei Stephen King gefunden habe: sie hat die schriftstellerische Gabe Alltägliches und Gewohntes in Entsetzen zu verwandeln. Die Autorin von “Die Vögel”, der Vorlage des Hitchcock-Films, schafft Atmospheren, die so dicht sind, dass sie die Lesenden hineinzieht und so schnell nicht loslässt. So schnell habe ich schon lange kein Buch mehr gelesen. Denn ich wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht.

März 2018 (I) / Pamuk, Orhan: Schnee, Carl Hanser Verlag, München, 2005.
Alle reden ja über die Türkei und ihren Präsidenten. Doch wer die Türkei verstehen will, sollte auch mal einen türkischen Autoren oder eine Autorin lesen. Das schreibe ich hier jetzt mal so, obwohl ich das geziehlt nie vor hatte. Durch ein Losverfahren wurde bestimmt, was ich als nächstes lese und das Losglück viel auf dieses Buch. Und dafür bin ich dankbar. Denn Pamuk hat mir Einblicke in die türkische Provinz und in eine zwischen Religion und Säkularisierung zerrissenen Tprkei gewährt, die ich so wahrscheinlich nie bekommen hätte.

Februar 2018 (II) / Stokowski, Margarete: Untenrum frei, Rowohlt Verlag, Hamburg, 2017.
Hätte ich eine Tochter, ich würde ihr dieses Buch zu lesen geben. Denn es ist ein Stück feministischer Aufklärungsliteratur. Durch ein Mädchen und Frauenleben hinweg zeigt Margarete Stokowski anhand von Schlaglichtern wie Frauen für das Leben für den Mann konditioniert – ja man muss leider sagen – dressiert werden. Es ist ein befreiendes, ein ermutigendes Buch. Das ist der beste Beitrag zur #meToo-Debatte, den ich bisher gelesen habe!

Februar 2018 (I) / Mulisch, Harry: Höchste Zeit, Carl Hanser Verlag, München, 1987.
Es gibt Menschen, die siechen im Alter dahin. Verstaubt vor dem Fernseher. Und dann gibt es die, die um jeden Lebenshauch kämpfen. Dass man man selbst im höchsten Alter noch die Chance hat Großes zu vollbringen, zeigt dieser Roman von Großschriftsteller Harry Mulisch. Wie habe ich dabei mitgefiebert, ob die Aufführung von Shakespeares “Sturm” gelingt! Für alle Theaterfans ein have-to-read!

Januar 2018 (II) / Neue Sachlichkeit – Literatur im “Dritten Reich” und im Exil, Reclam Verlag, Stuttgart, 1974.
Ich finde die Deutsche Literatur der Jahre 1925 bis 1945 fasziniernd. Wer in dieser Zeit schrieb, das Wachstum des Nationalsozialismus, die Machtergreifung Hitlers, das Mitläufertum, die Verfolgungen, die Morde, den Krieg, das alles erlebte, den und die umspülte ein Sturm ohnegleichen. Selten in der Deutschen Geschichte rangen unterschiedliche Vorstellungen von Deutschland so miteinander wie in dieser Zeit. Und natürlich stelle ich mir die Fragem ob die Literautur die Katastrophe hätte verhindern können.

Januar 2018 (I) / Fels Ludwig: Ein Unding der Liebe, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1988.
“Das Traurige an den meisten Klischees ist, daß sie wahr sind. Ludwig Fels, Jahrgang 1946, ist kein Subtilist, der aparte Seelenlandschaften malt-und originelle Sujets sucht. Sein Roman ist rüde bis an den Rand des Erträglichen, grob in der puren Attacke auf den feineren Geschmack, ein „Unding der Liebe“ zu seinem Helden, einer ungeliebten und nicht sehr liebenswerten, traurigen, kaputten Gestalt. Nichts da von Innerlichkeit und von neuer Sensibilität, keine Stimmungsbilder aus der literarischen Schickeria, weder zarte Melancholie noch Glanzlichter eines weltläufigen Weltschmerzes.” (Ulrich Greiner, Die Zeit)

Dezember 2017 (II) / Le Guin, Ursula K.: Was Wort für Welt ist Wald, Argument Verlag, Hamburg, 1997.
Es ist leicht, sich vorzustellen, dass die Menschheit mittlerweile alle Bäume gefällt hat und Holz wertvoller ist als Gold. Und dass sie deshalb danach trachtet neue Planeten zu kolonisieren, die den Rohstoff Holz in Hülle und Fülle bieten. Doch die Einheimischen wehren sich gegen die Ausbeutung. Der Konflikt eskaliert. Ein leider immer noch zeitgemäßer Science-Fiction-Roman. Grüße gehen raus in den Hambacher Wald!

Dezember 2017 (I) / Saramago, José: Eine Zeit ohne Tod, Rowohlt, München, 2007.
Saramago lässt den Tod Urlaub machen und die Einwohner*innen eines ganzen Staates darauf reagieren und ins Extreme gleiten. Was würde passieren, wenn niemand mehr stirbt? Was würde in den Krankenhäusern passieren, wie würde die Wirtschaft darauf reagieren? Wie die Politik und wie die Kirche? Und wie die Familien, die Menschen, die eigentlich längst hätten sterben müssen, pflegen müssen? Wäre eine Welt ohne Tod wünschenswert? Dieses Buch liefert, wie ich denke, einige Antworten auf diese Fragen.

November 2017 (II) / Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben, DVA, München, 2001.
In meinem Leben bin ich Marcel Reich-Ranicki ein einziges Mal begegnet. Nun ja. Es war nicht wirklich eine Begegnung. Ich stand als angehender Buchhändler, als kleines Würstchen, in Frankfurt während einer Buchvorstellung an einem Verkaufsstand. Plötzlich regten sich die Menschen im Saal, drehten ihre Köpfe Richtung Tür. So als ob jemand eine Laterne in einen finsteren Raum getragen hätte. Tatsächlich war es Marcel Reich-Ranicki, der in einem Rolstuhl in den Raum geschoben wurde. Ihm galt die volle Aufmerksamkeit. Ich überlegte kurz, ob ich ihm sagen sollte, wie sehr ich ihn bewunderte. Aber wie so oft in meinem Leben dachte ich dann, und das trifft mich noch heute, wenn ich beispielsweise Theaterschauspieler*innen verehre, dass ihn das wahrscheinlich nerven würde, ihn genervt hätte, dass ihm das wohl täglich passierte und er denken könnte, dass ich ein Arschkriecher sei; nur einer von vielen Bewunderinnen und Bewunderinnen und Möchtegern-Schriftsteller*innen. Ich habe ihn nicht angesprochen und ihm nicht gedankt. Das bereue ich noch heute.

November 2017 (I) / Mitscherlich – Nielsen, Margarete: Die Radikalität des Alters, S. Fischer, Berlin, 2011.
Die Deutsch-niederländerin reflektiert in diesem autobiografischen Buch wichtige Eposoden ihres Lebens. Sie gehörte zu einer Gruppe von Studentinnen, welche die die Nazisthesen ablehnen. »Habe ich genug gegen die Nazis getan in dieser Zeit?« fragt sie sich. Gleichzeitig richtet Mitscherlich ihren psychoanalytischen Blick auf Themen wie Sexualität, Feminismus, Erinnerungskultur und Tod. Kann es sein, dass Menschen radikaler werden, wenn sie älter werden, weil ihnen nur noch wenig Zeit bleibt, ihrem Leben Bedeutung zu verleihen?

Oktober 2017 (II) / Levi, Primo: Die Untergegangenen und die Geretteten, Hanser Verlag, München, 1990.
Primo Levi hat das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau überlebt und ist daran zugrunde gegangen. Der Chemiker Levi beschreibt, wer und warum die Vernichtungspolitik der Nazionalsozialist*innen überlebte, wie die Nazis Juden für ihre Zwecke instrumentalisierten und warum es wichtig ist, Zeugnis von den Ereignissen abzulegen. Keine leichte Lektüre, aber wer sich mit dieser Zeit der Schreckensherrschaft wirklich auseinandersetzen möchte, kommt daran nicht vorbei.

Oktober 2017 (I) / Saramago, José: Die Stadt der Blinden, Rowohlt, Hamburg, 1997.
Dieser Roman beeindruckt mich noch heute. Die existentiellen Fragen, die er aufwirft, bleiben immer aktuell. Saramago erfindet ein Ereignis und lässt die Welt darauf reagieren. Würden wir alle an einer Krankheit leiden, die uns erblinden ließe, wie würden wir reagieren? Wie der Staat, um die Epidemie zu stoppen? Krasser Stoff auf dem Boden der Tatsachen. Entlarvend, menschlich. Mein absoluter Tipp!

September 2017 (II) / Simenon, Georges: Das blaue Zimmer, Diogenes Verlag, Zürich, 2003.
Leidenschaft kann außer Kontrolle geraten. Was als Affaire beginnt, kann im Drama enden. Und im Tod. Dass verheiratete Männer eine Liebschaft beginnen und Fremd gehen, obwohl sie zu Hause Frau und Kinder haben, die sie lieben ist oft niemandem unbegreiflicher als dem Mann selbst, der den Spagat zwischen den unterschiedlichen Liebesarten vollbringen muss. In Simenons “Blauem Zimmer” zerbricht der Mann und verliert schließlich alles. Es ist die Autopsie einer Affaire, bei der schließlich alle Beteiligten alles verlieren.

September 2017 (I) / Zuckmayer, Carl: Der Seelenbräu, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1988.
Ja, ich weiß, schon wieder Zuckmayer. Aber was soll ich machen? Ich mag einfach diese volkstümliche Gemütlichkeit, die Zuckmayer in seinen Geschichten aufgreift und, die – wohlbemerkt – nicht im Nationalen münden, sondern sich auf die Traditionslinien beziehen, die Gemeinschaften nunmal miteinander verbinden. Dass es Zuckmayer gleichzeitig gelingt, aufzuzeigen, wie ein “Das haben wir schon immer so gemacht” auch im alltäglichen Landleben überwunden werden kann und dass Liebe als integratives Moment funktioniert, ist ein weiteres Markenzeichen “Zucks”, dass ich nicht missen möchte.

August 2017 (II) / Simenon, Georges: Maigret und das Dienstmädchen, Diogenes Verlag, Zürich, 2008.
Eigentlich bin ich ja kein starker Krimi-Leser. Das hat sich einfach nicht ergeben. Ich brauche nicht unbedingt Tote, um einen Roman gut zu finden, kann aber sehr gut nachvollziehen, welche Anziehungskraft gut geschriebene Krimis auf Menschen ausüben können. Kommissar Maigret war mir gleich sympahisch. Denn er kann gut mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten umgehen. Er kennt seine Schwächen und Stärken und setzt beide optimal ein. Simenon scheint kein Effekthascher zu sein. Mal sehen. Vielleicht bleibe ich am Ball.

August 2017 (I) / Atwood, Margaret: Moralische Unordnung, Taschenbuch Verlag, Berlin, 2009.
Gerne habe ich bei Literatur 22 aus diesem autobiografischen Roman vorgelesen. Es ist ein Vergnügen, mit der kleinen Margaret auf der Schulbank zu sitzen, zu beobachten, wie sie mit sie einem Mitschüler Deutsch-Nachhilfe gibt, traurig zu sehen, wie sich die komplexe Beziehung zu ihrer Schwester weiter verkompliziert und sie als Zweitfrau eines verheiratenen Mannes fungiert. Ich habe dieses Buch auch als Warnung verstanden. Vor allem an Frauen (und natürlich auch an zögerliche sorgenbefrachtete Männer). Die Warnung heißt: sei nicht so passiv, lass nicht alles mit die Geschehen, agiere!
Juli 2017 (II) / Kruse, Wolfgang: Die Französische Revolution, Schöning, 2005, Paderborn.

Juli 2017 (I) / Thamer, Hans-Ulrich: Die Französische Revolution, C.H. Beck, 2009, München.
Seitdem ich im Stadttheater Münster “Wir schaffen das schon – La Révolution” gesehen habe, lässt mich die Französische Revolution nicht mehr los. Ich will mehr wissen und deshalb dachte ich mir, ich fange mit den Grundlagen an. Da kam mir dieses kleine Büchlein aus der Beck’schen Reihe gerade recht. Eine Revolution, erstanden für 2 Euro.

Juni 2017 (II) / Zuckmayer, Carl: Aufruf zum Leben – Porträts und Zeugnisse aus bewegten Zeiten, Fischer, 1995, Frankfurt am Main.
Nachdem Stefan Zweig, sich umgebrachte, hatte, schrieb Zuckmayer ein Flugblatt mit dem Titel “Aufruf zum Leben”. Es war das erste und einzige Flugblatt, das er je veröffentlichte und es ist das beste, das ich je gelesen habe. Gemeinsam mit zahlreichen Reden zu bestimmten Anlässen ist es in diesem Sammelband veröffentlicht. Es könnte in jeder Diktatur – auch heute noch – verteilt werden. Ich zitiere: Wir müssen dieses Leben bis zum äußersten verteidigen, denn es gehört nicht uns allein. Was auch kommen mag: kämpft weiter. Lebt: aus Trotz – wenn alle andern Kräfte Euch versagen und selbst die Freude lahm wird – lebt: aus Wut! Keiner von uns darf sterben, solange Hitler lebt! Seid ungebrochen im Willen, die Pest zu überleben.

Juni 2017 (I) / Steinbeck, John: Jenseits von Eden, dtv, 1987, München.
Durch das Lesen von Romanen gelingt es das Welttreiben besser zu verstehen, weil man die Beweggründe der im Roman handelnden Personen aufgezeigt bekommt und so nachvollziehen kann. Das kann in politischen Sachverhalten der Fall sein, aber auch – und das ist hier insbesondere so – bei Familienmitgliedern. Selten habe ich das so gut, so gefühlvoll, so unmittelbar erlebt, wie in diesem Buch. Niemand der gerne Romane liest, sollte dieses Werk und die Charaktäre, die darin leben, verpassen. Leibhaftig!

Mai 2017 (II) / Zuckmayer, Carl: Als wär’s ein Stück von mir, S. Fischer Verlag, 1966, Frankfurt am Main.
640 Seiten geballtes Leben. Der Autor des “Fröhlichen Weinbergs” des “Hauptmanns von Köpenick” und “Des Teufels General” hat wahrlich viel zu erzählen. Davon, wie er von einem Kriegsgegner zu einem Befürworter des I. Weltkrieges geworden war und sich freiwillig (!) gemeldet hatte. Diese Biografie enthält Geschichten vom Kriege wie von Flucht und Exil. Ein deutscher Geflüchteter in der Schweiz und in den USA versucht seine Familie durchzubringen und ihr ein neues zu Hause zu bieten. Stadtleben. Landleben. Literatenleben.
Aber es ist vor allem ein Buch über die Freundschaft. Und über den Verlust der Heimat und er engsten Freundinnen und Freunde. Über das Schreiben. Über das Scheitern. Über hymnische Erfolge und literarische Höhenflüge. Ein Leben, das geführt wurde, ohne Aufgabe und mit dem Glauben an das Gute und die Guten, die es in allen Ländern dieser Erde zu Hauf gibt und die es auch in Deutschland vor und nach den großen Kriegen immer gegeben hat. An die zahlreichen Kunstschaffenden der damaligen Zeit und die Werte, die sich durch den Widerstand gegen die Nationalsozialist*innen manifestierten.
Ihr Werk ist unsere Mahnung. Ihr Erbe unser Anspruch. Ihre Botschaft unsere Pflicht. Ihr Leben unser Vorbild. Als wär’s ein Stück von uns.

Mai 2017 (I) / Maalouf, Amin: Mörderische Identitäten, Suhrkamp, 2000, Frankfurt.
Zwei Jahre vor den Anschlägen auf das World Trade Center hat Amin Maalouf die Erklärung dafür geliefert, warum sich junge Menschen, die zwischen den Kulturen aufgerieben werden, radikalisieren und gewalttätig werden. Mit dem Talent eines Romanciers beschreibt Maalouf in diesem Essay die Umstände, unter denen “Mörderische Identitäten” aufwachsen, gebildet werden und leiden. “Ich habe bislang stets die Tatsache betont, dass sich die Identität aus vielfältigen Zugehörigkeiten zusammensetzt […] Oft neigt man übrigens dazu, sich gerade in seiner am stärksten angegriffenen Zugehörigkeit wiederzuerkennen […] Die betreffende Zugehörigkeit – Hautfarbe, Religion, Sprache, Klasse etc. – beherrscht dann die gesamte Identität. Diejenigen, die sie miteinander teilen, finden sich zusammen, werden aktiv, stärken sich gegenseitig den Rücken und geben “der anderen Seite” die Schuld.” Was man dagegen tun kann? Die Menschen nicht dikriminieren und nicht dazu zwingen, sich entscheiden zu müssen, sondern kukturelle Vielfalt als Bereicherung empfinden, das auch vermitteln und annehmen.

März 2017 (II) / Roth, Philip: Der menschliche Makel, Carl Hanser Verlag, 2002, München.
Was Roth hier gelingt, vermag nur der Roman: die Beleuchtung innerer Erlebniswelten, die menschliche Handlungen begründen und für außenstehende oft unverständlich bleiben (müssen). Die Geschichte eines Collegeprofessors, der aufgrund eines Rassismusvorwurfs alles verliert, ist eine Mahnung an alle, die sich angewöhnt haben, vorschnelle moralische Urteile zu fällen. “Der menschliche Makel” hat mich daran erinnert, warum ich angefangen habe, Bücher zu lesen: um die Menschen besser zu berstehen.

März 2017 (I) / Roth, Philip: Das sterbende Tier, Carl Hanser Verlag, 2003, München.
Ein lüsternder Professor verliebt sich in eine wesentlich jüngere Studentin? Hat diese Liebe eine Chance? Oder ist sie von Alternsangst und Unsicherheit getrieben dem Untergang geweiht? Manche Fragen, die wir im Alltag lieber verdrängen, bekommen durch die Begegnung mit besonderen Menschen unverhofft gewicht.

Februar 2017 (II) / Röhl, Anja: Die Frau meines Vaters – Erinnerungen an Ulrike, 2013, Hamburg, Edition Nautilus.
Das hier ist keine Geschichte über Ulrike Meinhoff, sondern die schonungslos qualvolle Geschichte einer Mädchenkindheit in den 60er Jahren. Ulrike Meinhoff ist eher Projektionsfläche, emanzipatorischer Sehnsuchtsort und Ausweg aus einer bürgerlichen Gesellschaft, in der Frauen nichts gelten. Dass die Autorin von sich selbst in der dritten Person schreibt, verstärkt den Eindruck als sei Anja Röhl mehr Spielball ihrer Umwelt – unter anderem von aufdringlichen Männern – gewesen. Mehrmals habe ich mich stellvertretend für diese Männer geschämt, was die literarische Qualität dieses Buches beweist.

Februar 2017 (I) / Tintenfass Nr. 26 – Das Magazin für den überforderten Intellektuellen.
Diese zum 50. Geburtstag des Diogenes erschienene Jubiläumdausgabe ist ein Lesevergnügen für alle, die sich dem Literaturbetrieb und seiner Eigenheiten zugehörig fühlen oder diese erforschen wollen. Dass der Diogenes-Verlag in dieser Ausgabe ausschließlich Meisterinnen und Meister ihres Faches versammelt hat, tut da sein Übriges.

Januar 2017 (II) / Böll, Heinrich: Das Brot der frühen Jahre, 1955, Köln, Kiepenheuer und Witsch.
Gläubig, Ernst, Mitgleid, Güte… und Witz. Das war Böll und so ist seine Literatur. Heinrich Böll ist einer jener Autor*innen, von denen ich behaupten kann, bereits so viel gelesen zu haben, dass ich in seinem Werk einen roten Faden erkenne. Und er war einer der ersten Autor*innen, die in mir ein inneres Prickeln verursachten, das mir beim Lesen verriet: das ist groß, hier hast du was in der Hand, das größer ist als du, etwas das dir hilft die Welt zu verstehen, lies weiter, es wird zu deinem Schaden nicht sein, sondern wird dich innerlich bilden und du wirst ein guter Mensch. Das ist selten. Aber das ist Böll. Und das ist heute auch ein Teil von mir.

Januar 2017 (I) / Von Weizsäcker, Ernst U.: Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an der Schwelle zum Jahrhundert der Umwelt. 1989, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Das der Mensch Natur und Umwelt zu seinem eigenen Schaden missbraucht, ist klar und in zahlreichen Büchern besprochen worden. Lamentieren und Probleme wälzen ist einfach, aber Lösungen vorzuschlagen und zu diskutieren das eigentliche Ziel. Von Weizsäcker bespricht in diesem Buch realpolitische staatliche Instrumente zur Steuerung der Marktwirtschaft und zum Wohle der Natur. Und selbstverständlich gehört dazu auch die Steuerpolitik.
Dezember 2016 (II) / Goffman, Erving: Asyle. Über die soziale Situation psychatrischer Patienten und anderen Insassen, 1961, Frankfurt am Main, Suhrkamp.

Wir Menschen bewegen uns in zahlreichen Einrichungen. Manche dieser Institutionen sind total; d.h. sie bestimmen, wie wir leben (sollen) – und zwar rund um die Uhr. Christliche Erziehungsheime, Kasernen, Gefängnisse, Klöster, Psychatrien, Internate… Welche Auswirkungen haben die Methoden, die in diesen Einrichtungen angewandt werden auf den Charakter eines Menschen? Welche Perspektiven haben die Insassen? Welche das dort arbeitende Personal? Dieses Buch bietet nicht nur eine Definition der “totalen Institution” sondern geht diesen Fragen auf den Grund. Und man findet Bestandteile totaler Institutionen in Einrichtungen wie Schulen, Hochschulen, Altenheime, usw. wieder. Das regt zum Nachdenken an. Ein Standardwerk.

Dezember 2016 (I) / Tucholsky, Kurt: haßt-liebt, 1957, Hamburg, Rowohlt Verlag.
Warum heute noch Kurt Tucholsky lesen? 1. Weil es witzig ist. 2. Weil es historisch ist und 3. weil es politisch interessant ist. Die Lektüre Kurt Tucholskys ist der schlagende Beweis dafür, dass eben nicht alle Menschen vom 1. in den 2. Weltkrieg getaumelt sind, sondern es pazifistische und anti-nationale Alternativen gab. Einen anderen Weg. Ein gutes Deutschland. Ein gutes Deutschland, das vor allem heutzutage, da sich das niederträchtige menschenfeindliche Deutschland am Horizont der kommenden Parlamentswahlen erhebt, dringend gebraucht wird. In Geist und Tat. In persona.

November 2016 (II) / Winckler, Lutz: Studie zur gesellschaftlichen Funktion faschistischer Sprache, 1970, Frankfurt, Suhrkamp.
Jedes politisches System hat seine Sprache. Welche Sprache hat der Faschismus? Und was ist die Funktion der Sprache im Faschismus? Lutz Wincklers Analyse ist bestehend eindeutig. Beispielhaft erläutert er an Satzbaukonstruktionen und rhetorisches Stilmitteln wie die faschistische Sprache manipuliert. Ein Rüstzeug für alle, welche die Aufklärung im besten Sinne suchen und verbreiten wollen – und sich mit populistischen Parteien beschäftigen.

November 2016 (I) / Treiber, Hubert / Steinert, Heinz: Die Fabrikation des zuverlässigen Menschen – Über die “Wahlverwandtschaft” von Kloster- und Fabrikdisziplin, 2005, Münster, Westfälisches Dampfboot.
Treiber und Steinert finden den Ursprung der disziplinierten Fabrikarbeit im Kloster des Mittelalters. Von dort habe sich die Disziplin “verallgemeiner” – bis hin zur “zuverlässigen Selbst-Instrumentalisierung”, die dazu führe, dass ein Befehl ausgeführt wird, bevor er gegeben ist. Der Unternehmer, der sich für das Familienleben seiner Angestellten interessiert, verfolgt ein essentielles Eigeninteresse: denn geordnete Lebensverhältnisse liefern ihm “zuverlässige” und abhängige Mitarbeiter.

Oktober 2016 (II) / Treiber, Hubert: Wie man Soldaten macht, 1973, Düsseldorf, Bertelsmann.
Die Doku-Soap der Bundeswehr “Die Rekruten” hat auf youtube hundertausende Klicks. Doch wie werden wirklich Soldaten gemacht? Wie werden Menschen und Gruppen dazu diszipliniert, auf Befehl zu reagieren? Und zu töten? Ein krasses Schlaglicht auf eine “totale Institution”. Sehr lesenswert.

Oktober 2016 (I) / Highsmith, Patricia: Kleine Geschichten für Weiberfeinde, 1979, Zürich, Diogenes.
Die Autorin portraitiert 17 Frauentypen. Oft nicht zu ihrem Vorteil. “Die bürgerliche Hausfrau”, “Die Zuchtanstalt”, “Der Bettinhalt”. Manchmal ist der Name des Kapitels nicht Programm, aber oft. Wer sich in diesen Geschichten wiedererkennt, darf sich unglücklich schätzen. Dabei wird das Verhalten der Männer gegenüber diesen Frauen zumindest genauso deutlich offenbart. Provokant. Lesenswert.

September 2016 (II) / Foer, Jonathan Safran: Tiere essen, 2010, Köln, Kiepenheuer und Witsch.
Nun lebe ich schon seit einigen Jahren vegan. Ich esse keine tiereischen Produkte. Das hat viele Gründe, die ich hier nicht aufzählen möchte, denn das würde den Rahmen dieses Formats hier sprengen. Aber nun habe ich dieses Buch gelesen und ich habe vier (!) Mal dabei geweint. Es hat mich in meiner Lebensweisenwahl bestätig. Alle, die Fleisch essen, besonders dann, wenn es aus Massentierhaltung stammt, sollten dieses Buch lesen und sich die Frage stellen, ob sie sich an diesem grausamen Treiben mitschuldig machen wollen. Ich will es nicht. Niemehr.

September 2016 (I) / Roald, Dahl: Kuschelmuschel – Vier erotische Geschichten, 1975, Hamburg, Rowohlt Verlag.
Nein, Roald Dahl hat nicht nur Kinderbücher geschrieben, sondern glücklicherweise auch mehr. Warum funktionieren diese Kurzgeschichten? Weil sie witzig und erotisch aufgeladen sind. Sie handeln oft von moralisch fragwürdig handelnden Protagonist*innen, die auf der letzten Seite gewaltig scheitern. Ein Vergnügen. Großartig geschrieben.

August 2016 (II) / Ruch, Philipp: Wenn nicht wir, wer dann?, 2015, München, Random House.
“Die Irrlehre, wir müssten so handeln, wie wir es fühlen, ist ein Hauptgrund dafür, weshalb sich so viele Menschen selbst verachten oder als sinnlos empfinden. Man sollte vielmehr tun, was man für wünschenswert hält. (…) Wir leben in einer Trockenphase der Weltgeschichte. Es gilt, sie mit Schönheit zu tränken.”

August 2016 (I) / Frisch, Max: Ausgewählte Prosa. Frankfurt, 1972, Suhrkamp.
In diesem kleinen Büchlein lernt man Max Frisch durch seine Lebensweisheiten kennen. Ob Liebe, Eifersucht oder Nationalismus; Max Frisch ist einer Erheller. Und immer lesenswert. Einfach mal auf Youtube eingeben und die Interviews mit max Frisch anschauen. Es lohnt sich.

Juli 2016 (II) / Münkler, Herfried: Der große Krieg. Die Welt 1914 – 1918, 2014, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.
Knapp 800 Seiten umfasst dieses Buch über die Ursachen, den Ablauf und das Ende des 1. Weltkrieges. Doch warum sollte man sich heutzutage überhaupt mit dem 1. Weltkrieg beschäftigen. Um es mit den Worten von Herfried Münkler zu sagen: „Er ist ein Kompendium für das, was alles falsch gemacht werden kann.“ Der 1. Weltkrieg war keineswegs unvermeidbar. Kein Krieg ist das. Dieses Buch hat mich in der Ansicht bestärkt, dass Krieg nur durch aktive Friedensarbeit verhindert werden kann. Denn wer glaubt, wirtschaftliche Verflechtungen wären eine Garantie für den Frieden, der irrt. Dies ist eine der großen Lehren, die der 1. Weltkrieg zu bieten hat.

Juli 2016 (I) / Chayefsky, Paddy: Die Verwandlungen des Edward J., 1979, Köln, Kiepenheuer und Witsch.
In diesem Buch gibt es Sätze, die wie Messer schneiden. Beziehungen, die ihren Zenit längst überschritten haben, exzessive und fanatische Wissenschaft, innere Migration, Selbstsauflösung. Jede Seite absolut spannend.

Juni 2016 (II) / Palmen, Connie: Die Erbschaft., 2001 , Zürich, Diogenes Verlag.
Es gibt Bücher, die liegen jahrelang im Regal und werden nicht angefasst, geschweige denn gelesen. So ein Buch aus meinem Regal ist “Die Erbschaft” von Connie Palmen. Nach dem ich es gelesen hatte, bekam ich das Bedürfnis mich dafür bei Frau Palmen zu entschuldigen.

Juni 2016 (I) / Kunath und Dietz (Hg.): Die Kinder Utopias – Phantastische Erzählungen, 1985, München, Nymphenburger Verlag.
Im Laufe der Zeit habe ich eine Leidenschaft für Utopien entwickelt. Dieses Buch hat in einem öffentlichen Bücherregal meine Aufmerksamkeit erregt und es hat sich mehr als gelohnt. Nicht nur, dass es Autor*innen enthält, die mir unbekannt waren, auch die Geschichten sind teilweise von einer Eindringlichkeit, die verrät, dass Science-Fiction-Literatur durchaus literarisch sein kann und – um ernst genommen zu werden – wohl auch muss.

April 2016 (II) / Lem, Stanislaw: Die phantastischen Erzählungen des Stanislav Lem, 1980, Frankfurt, Insel Verlag.
In diesem Buch gibt es ein aufschlussreiches Interview. Lem äußert sich darin zu seiner Rolle als SiFi-Autor. Denn das wollte er nie sein, sondern nur “gesellschaftliche Entwicklungen zu Ende denken”. Wenn das doch nur mehr Menschen mal tun würden?!

April 2016 (I) / Noll, Ingrid: Kalt ist der Abendhauch, 1998, Zürich, Diogenes Verlag.
Wenn eine 83-jährige auf ihr Leben zurückblickt und Ingrid Noll ihre Fingern der Frauenbiographie hat, ist das ein Stück Zeitgeschichte. Dann ist das unheimlich spannend, traurig, humorvoll …und stimmt ziemlich nachdenklich. Welche Qualen haben die Leute überstanden? Worauf werde ich zurückblicken, wenn ich 83 bin? Mhmmm. Hoffentlich nicht auf eine Nachkriegszeit.

März 2016 (II) / Biermann, Christoph: Die Fußball-Matrix – Auf der Suche nach dem perfekten Spiel, 1998, Zürich, Diogenes Verlag.
Fußball ist ein faszinierendes Spiel. Und wie in der Politik spielen Regeln eine wichtige Rolle. Sie sind es, die bestimmen, wie sich die Spieler verhalten. Da die übliche Fernsehberichterstattung oft nur an der Oberfläche kratzt, hilf der Griff zum Buch. Wer wissen will, warum die Offensive wichtiger ist als die Verteidigung, wie man einen Elfmeter schießen sollte und warum die 3-Punkte-Regel dem Fußball in Sachen Offensivspiel geschadet hat, findet die Antworten darauf in diesem. Fußballwissenschaft? Ja, die gibt es.

März 2016 (I) / Barnes, Julien: Das Stachelschwein, 1992, Zürich, Haffmans Verlag.
Es gibt in diesem Buch eine meiner Lieblingsstellen. Darin treffen demonstrierende Studierende auf ein Armeeregiment, dass sie vertreiben soll. Was fast zu einem Blutvergießen geführt hätte, wird dank eines Fernsehteams zu einem Symbol der Freundschaft.

Februar 2016 (II) / Leggewie, Claus / Welzer, Harald: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten – Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, 2009, Fischer-Verlag, Frankfurt am Main.
Dieses Buch hat alles, was man über den Klimawandel wissen muss: Ursachen, Folgen, die damit verbundene weltweite Ungerechtigkeit und warum viele Menschen immernoch so tun, als könnte man den “überentwickelten Zustand” industralisierter Gesellschaften auf ewig aufrecht erhalten. Ich habe durch dieses Buch jedenfalls viel gelernt.

Februar 2016 (I) / Hackmack, Gregor: Demokratie einfach selber machen – Ein Update für unsere Politik, 2014, edition Körber-Stiftung, Hamburg.
Die repräsentative Demokratie hat viele Fehler. Der Mitbegründer des Internetportals abgeordnetenwatch.de Gregor Hackmack lässt sich in diesem Buch darüber aus. Parteispenden, Lobbyismus, und Entfremdung der Politiker*innen von der Basis macht er als die Ursache eines Vertrauensverlustes aus; macht aber auch Vorschläge sie zu beseitigen. Unter anderem mit mehr Demokratie, mehr Transparenz und der Einführung des bundesweiten Volksentscheids.

Januar 2016 (II) / Gerstengarbe, Friedrich-Wilhelm / Welzer, Harald (Hg.): Zwei Grad mehr in Deutschland – Wie der Klimawandel unseren Alltag verändern wird, 2013, Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
Der Klimawandel schreitet voran und auch Deutschland wird betroffen. Zwar nicht so stark wie andere Länder, aber es wird wärmer, neue Tierarten werden auftauchen und andere verschwinden. Wenn es wärmer wird, wird das Wasser knapp, Probleme wie die Feinstaubbelastung in Großstädten werden sich weiter verschärfen und die Auswirkungen vergangener Hitzewellen lassen erahnen, was da auf uns zukommt.

Januar 2016 (I) / Geiges, Lars / Marg, Stine / Walter, Franz: Pegida – Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft, 2015, transcript Verlag, Bielefeld.
Wenn sich Wissenschaft und Journalismus paaren kann das sehr unterhaltsam sein. Doch wenn es um ein Phänomen wie Pegida geht, ist das kein Spaß; vor allem dann nicht, wenn diese Bewegung so anschaulich geschildert wird, wie in diesem Buch. Stellenweise hat man das Gefühl, dabei zu sein und kopfschüttelnd daneben zu stehen. Verständlich und genau wird hier eine Bewegung und ihre Anführer*innen beschrieben und man darf hoffen, dass diese Menschen und ihre politischen Arme in Deutschland niemals politische Verantwortung tragen werden.

Dezember 2015 (II) / Moorcock, Michael: Elric von Melnibonée, 1984, Heyne, München.
Die Geschichte des Außenseiter-Königs Elric, der seine Macht rücksichtslos verteidigt und geplagt von moralischen Widersprüchen eine abenteuerliche, brutale und philosophische Reise beginnt. Ein Klassiker der Fantasy-Literatur.

Dezember 2015 (I) / Jacques, De Saint Victor: Die Antipolitischen, 2015, bpb, Bonn.
Ein kleines Büchlein über eine europäische Bürgerbewegung, die mithilfe des Internets und bekannten Persönlichkeiten an Fahrt gewinnt und etablierten Parteien und dem Parlamentarismus grundsätzlich misstraut. Ihre Forderung: mehr direkte Beteiligung, mehr Transparenz, mehr Demokratie – alles mit Hilfe des Internets. Mittlerweile erobert sie auch Parlamente. Doch wohin entwickeln sich diese Parteien? Und welche Gefahren bringen sie für die Demokratie?

November 2015 (II) / Lovelock, James: Gaias Rache – Warum die Erde sich wehrt. 2007, Ullstein, Berlin.
Lehrreich und ernüchternd geht Lovelock auf die Ursachen und Folgen des Klimawandels ein. Der Verteidiger der ganzheitlichen Blickes auf den Planeten Erde (Gaia) hält nichts von erneuerbaren Energien. Für ihn ist es für die Rettung schon zu spät. Die schlimmsten Auswirkungen könnten nur noch gemildert werden – womöglich mit Geo-Engeneering. Nicht mehr Wachstum sei die Devise, sondern es gelte einen “geordneten Ruckzug” anzutreten.

November 2015 (I) / Dyer, Gwynne: Schlachtfeld Erde – Klimakriege im 21. Jahrhundert.2010, Klett-Cotta, Stuttgart.
Der Militärexperte schreibt über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Konfliktherde dieser Welt. Wenn sich Wüsten ausbreiten, Flüsse austrocknen und Ernten ausbleiben, wird es mehr Kriege geben. Ein ernüchterndes und Angst einflößendes Buch.

Oktober 2015 (II) / Max, Frisch: Mein Name sei Gantenbein, 1964, Suhrkamp, Frankfurt am Main.
Eines meiner absoluten LIeblingsbücher über Identität und gesellschaftliche Rollenzuschreibungen. Ein Blinder, der vorgibt, blind zu sein und so soziale Anerkennung erlangt. Kann man Identitäten anprobieren wie Kleider? Betrügen wir uns selbst, so dass unser Leben zu der Geschichte passt, die wir erzählen wollen, wenn wir gefragt werden, wer wir sind? Genial!

Oktober 2015 (I) / Grass, Günter: Im Krebsgang. Eine Novelle, 2002, Steidl-Verlag, Göttingen.
Die Feststellung, dass die Gegenwart das Kind der Vergangenheit ist, spiegelt sich in Romanen und Novellen besonders eindrucksvoll in Familiengeschichten. Der Untergang des Schiffes “Wilhelm Gustloff”, es waren 10.000 Menschen an Bord, umrankt hier einen Journalisten und seine Angehörigen. Eine Recherche wird zu einer historischen und persönlichen Herausforderung.
September 2015 (II) / Skármeta, Antonio: Die Hochzeit des Dichters, 1999, Piper, München.
Die Geschichte einer kleiner Insel ist gefühlvoll und witzig, also einfachköstlich inszeniert. Die Bewohner*innen sind liebenswert. Sie sind der Weltgeschichte und ihren Sehnsüchten ausgeliefert. Eine ihrer kleinen Freuden ist ein Tanz namens Turumba. Eine Strophe daraus lautet: “Der Mond über dem nächtlichen Meer, schaut durch die Wolken so barsch, und wenn ich dich heute nicht sehe, bin ich auch morgen am Arsch.” Schnörkelos und ziemlich treffen.
September 2015 (I) / Skármeta, Antonio: Der Radfahrer vom San Christóbal, 1984, Piper, München.
In diesem Kurzgeschichtenband gibt es eine Geschichte namens “Die Goldmedaille”, die ich immer wieder gerne vorlese und empfehle. Sie handelt von einem kleinen Jungen, der in der Schule die Aufgabe gestellt bekommt, einen Aufsatz darüber zu schreiben, was seine Eltern zu Hause so machen. Denn die Diktatur Pinochets ist neugierig.
August 2015 (II) / Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 29–31/2013), Deradikalisierung.
Alle reden von Terrorismus und Extremismus. Aber wir sollten auch von den Ursachen und der Chance der Deradikalisierung sprechen. Besondere Beachtung verdient der Artikel von Ulrich Dovermann mit dem Titel „Narrative und Gegen-Narrative im Prozess von Radikalisierung und Deradikalisierung“. Er geht der Frage nach, ob man den Ausführungen eines Neonazis überhaupt mit Argumenten begegnen kann.
August 2015 (I) / Morrison, Toni: Teerbaby, 1994, Rowohlt, Hamburg.
Besser hätte ich es leider nicht schreiben können: “Teerbaby ist ein sehr ernster, mehrschichtiger und tief gehender Roman von Toni Morrison über die durch Vorurteile und stereotype Ängste verursachten Konflikte zwischen Rassen, Gesellschaftsklassen und den Geschlechtern.” (Link zu einer lesenswerten Buchbesprechung)
Juli 2015 (II) / Zimmerer, Jürgen (Hrsg.): Kein Platz an der Sonne – Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Campus Verlag, Frankfurt.
Was haben sonnige Palmstrände, dunkle Urwälder, der Kilimandscharo und der Sarotti-Mohr gemeinsam? Antwort: Sie sind Vorstellungswelten und Assoziationsauslöser, deren Ressonanzboden die deutsche Kolonialgeschichte ist. Wie sehr unsere kulturellen Alltagszustände postkolonial durchtränkt sind, zeigt dieser überaus lesenswerte Sammelband. Hunnenrede, Hottentotenwahlen, Albert Schweizer, die Askari, die deutsche Denkmalskultur – und dazwischen selbstverständlich auch Kaiser Wilhelm II. Ich konnte dieses Buch nicht aus der Hand legen.
Juli 2015 (I) / Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit, 2005, Hanser Verlag, München, Wien.
Innerlich zerrissen fürchtet sich der Protagonist in „Die Liebesblödigkeit“ vor seinem fortschreitenden Alter. Dabei wird er gepeinigt von Stützstrumpfhosen und seiner aufkommender Impotenz. Gleichzeitig hat der 52-Jährige eine beziehung mit zwei Frauen, die nichts voneinander wissen. Sie retten ihn vor Zivilisationekel, der Nichtdichkeit des Daseins, vor der Belanglosigkeit der Gespräche…
Juni 2015 (II) / Mulisch, Harry: Die Prozedur, 2002, Rowohlt, Reinbeck.
Harry Mulisch hat Geburt und Tod in „Die Prozedur“ zu seinem Thema gemacht und ein Roman geschaffen, in dem Leben und Tod miteinander verwoben sind wie eine Doppelhelix. Besonders seine Schilderung einer Todgeburt und deren Folgen haben mich tief bewegt. (Jedes Jahr sterben allein in Deutschland 3000 Babys im Mutterleib.)
Juni 2015 (I) / Saramago, José: Geschichte der Belagerung von Lissabon, 1992, Rowohlt, Reinbeck.
José Saramago erzählt die Geschichte eines alleinstehenden Literaturkorrektors, der aus einer Laune heraus etwas für ihn Undenkbares tut: er verfälscht vorsätzlich ein Sachbuch über die Eroberung von Lissabon und gibt es seinem Verlag „korrigiert“ zurück. Was als Sabotage der Geschichte der portugisischen Staatsgründung beginnt, führt die Leserinnen und Leser in die Zeit des 2. Christenkreuzzugs und den ungehorsamen Korrektor schließlich zur großen Liebe seines Lebens.
Mai 2015 (II) / Milosz, Czeslaw: Verführtes Denken, 1974, Frankfurt.
Als der Tod schon nahe war, dachte der Dichter bei sich. / Es gab wohl keine Obsession und keine törichte Idee meiner Zeit, / in die ich mich nicht Hals über Kopf gestürzt hätte. / Man sollte mich in die Wanne setzen und / mich so lange bürsten, / bis der ganze Schmutz von mir abgewaschen ist. / Und doch, gerade durch diesen Schmutz / konnte ich ein Dichter des 20. Jahrhunderts sein. Und vielleicht wollte es der Herrgott so, damit ich ihm von Nutzen sei.
Mai 2015 (I) / Packard, Vance: Die geheimen Verführer – Der Griff nach dem Unbewussten in jedermann, 1971, West-Berlin.
Es sollte einem jeden Menschen bewusst sein, dass er ein Unterbewusstsein besitzt und das dieses missbraucht werden kann und missbraucht wird. Packard hat als einer der ersten darauf hingewiesen, wie Marketingstrategen das Unterbewusste in uns benutzen, um Entscheidungen zu manipulieren. Dieses Taschenbuch, dass ich auf einen Flohmarkt für 1 Euro erworben habe, enthält zahlreiche interessante Beispiele. Mich würde interessieren, wie eine zeitgemäße, dem aktuellen Stand der Manipulationsforschung entsprechende Auflage aussehen würde. Literaturhinweise nehme ich gerne entgegen.
April 2015 (II) / Franzen, Jonathan: Die 27ste Stadt, 2003, Reinbek.
Martin Probst ist ein unbescholtener Bauunternehmer mit Selbstbewusstsein und moralischen Prinzipien. Er hat eine großartige Familie und beruflichen Erfolg. Er ist ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft und fühlt sich der Gemeinschaft verpflichtet. Doch als seine Heimatstadt St. Louis eine neue Polizeipräsidentin gekommt, ändert sich alles. Eine Verschwörung beginnt und sie ist gnadenlos.
April 2015 (I) / Herzog, Lisa: Freiheit gehört nicht nur den Reichen – Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus, 2014, Bonn.
Ein Buch, das man jedem FDP-Mitglied als Pflichtlektüre unter den Weihnachtsbaum legen sollte. Frau Herzog beschäftigt sich mit der Frage, was Freiheit ist und wie Freiheit in und durch eine Marktwirtschaft beschränkt wird aber auch gefördert werden kann. Dabei fasst sie auch heiße Eisen an. Selten habe ich in einem Buch so viel angestrichen. Denkanstöße ohne Ende.
März 2015 (II) / Halm, Heinz: Der Islam, 2000, München.
Wer noch nicht wusste, dass der Islam keine Kirche hat, die Verse im Koran der Länge nach geordnet sind, was der Unterschied ist zwischen einem Kalifat und einem Sultanat und zwischem einem Muslim und einem Isalamisten, dem empfehle ich dieses kleine aber feine Einführungsbuch. Heinz Halm erklärt darin nicht nur Grundsätzliches über die Großreligion Islam, sondern weist auch darauf hin, dass er in seiner Geschichte nicht nur Expansiion, sondern seit 1498 vor allem Usurpation durch europäische Kolonialmächte erlebt hat.
März 2015 (I) / King, Richard: Zunder reichts als Feuerholz, 1998, Frankfurt.
Ein Roman auf den ich allein nie gekommen wäre und den ich mit Hilfe eines Antiquariats erstehen musste. Eine der schönsten Liebesgeschichten, die ich kenne: schlicht, direkt und urkomisch.
Februar 2015 (II) / Bove, Emmanuel: Meine Freunde, 1981, Frankfurt.
Leidenschaftliches Hoffen und bittere Enttäuschung durchziehen das Werk des französischen Schriftstellers Emmanuel Bove. 1898 in Paris geboren ist Emmanuel Bove einer der bekanntesten Autoren der Moderne. Ein Klassiker, der durch klare Sprache und überzeugende Beschreibungen eine Atmosphäre dichtet, die dem Leser die Kehle zuschnürt. Seine Charaktere sind derart authentisch gezeichnet, dass der Leser unweigerlich denken muss: “Hoffentlich werde ich nicht so”, “Bitte Gott, lass mich nie so jemanden treffen oder gar heiraten.”
Es sind die kleinen Details, die in Emmanuel Boves Werk Schrecken verbreiten. In seinem Buch “Sein Vater und seine Tochter” heißt es beispielsweise: “Körperliche Missbildungen fielen ihr sofort auf. Eine Art Grausamkeit trieb sie dazu, darüber zu lachen.” Ob Privatleben oder Beruf, Boves Protagonisten werden von der Gesellschaft an den Ohren durch die Einsamkeit gezogen, in die Lüfte entführt, um auf dem Gipfel des Glücks fallen gelassen zu werden. Boves Protagonisten können nur reagieren. Agieren lässt die Welt nicht zu. Den Leser*innen, denen nichts anderes übrig bleibt als zuzuschauen, nehmen Anteil an dem Geschehen. Sie überkommt Mitleid und Ekel. Sie müssen sich die Frage stellen: Ist das Bove’sche Menschenbild wahrhaftig? Sind die Menschen
wirklich so verkommen? Lest und bildet euch ein eigenes Urteil.
Februar 2015 (I) / Topçu, Özlem / Bota, Alice / Pham, Khuê: Wir neuen Deutschen – Wer wir sind und was wir wollen, 2012, Hamburg.
Drei Frauen, drei deutsche Migrationsgeschichten. Doch sie nennen sich nicht Migrantinnen oder Deutsche mit Migrationshintergrund, sondern Neudeutsche. Warum erklärt dieses Buch. “Egal, wie oft wir von Deutschen dafür gelobt werden, die Sprache so gut zu beherrschen oder so hervorragend integriert zu sein. Das Lob ist gut gemeint, aber es schmeichelt uns nicht. Es adressiert und als Ausländer, die wir nicht sind (…) Wir sind die Kinder unserer Eltern, aber auch Kinder dieses Landes.”
Januar 2015 (II) / Virchow, Fabian (Hg): Das Unwort erklärt die Tat, 2015, Frankfurt am Main.
„Döner-Morde“; das Unwort des Jahres 2011 und noch mehr. Was passiert, wenn MigrantInnen in den Medien nicht als handelnde und konstruktive Personen (jenseits von Konklikten und Spannungsverhältnissen) gezeigt werden, sich Berichterstattung größtenteils in den Untiefen des Gefahren-Topos (Slums, Ghettos, Missbrauch des Asylrechts, terroristische Gefahr) bewegt und Journalist*innen zuviel Authoritätsgläubigkeit an den Tag legen, zeigt eine Studie der Otto-Bremer-Stiftung mit dem Titel: “Das Unwort erklärt die Untat” (Zitat von Heribert Prantl). Nur zwei bis drei Prozent der Journalist*innen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Das hat Folgen. Denn die Art und Weise wie MigrantInnen in den Medien gezeigt werden, entscheidet mit darüber, ob sie als gesellschaftlich zugehörig wahrgenommen werden. Zitat aus der Studie: „Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Repräsentation der Opfer nur gelegentlich dazu beitrugen, sie als zu betrauernde Mitmenschen zu zeigen. Stattdessen wurden den Opfern und Angehörigen Plätze jenseits der Legalität zugeiesen. Sie wurden entlang ihr (zugeschriebenen) Nationalität als Nichtdazugehörige definiert.“
Januar 2015 (I) / Fellini, Federico: Aufsätze und Notizen, Diogenes Verlag, 1974, Zürich.
Der im Oktober 1993 verschiedene italienische Meisterregisseur schreibt in diesem Werk nicht nur darüber, wie er zum Film kam, sondern teilt mit seinen Leserinnen und Lesern seine Gedanken über politische, kulturelle, sprich: gesellschaftliche Sachverhalte. Sollte ein Film ein “happy end” haben? Warum ist nach Fellini nichts so peinlich wie ein schlecht gemachter politischer Film? Und warum lässt sich ein Film in Worten kaum beschreiben? Für alle, die sich für den Film als künstlerisches Medium interessieren ist dieses Buch eine angenehme Lektüre. Für alle, die Fellini mögen und verehren, ist dieses Buch Pflicht.
Dezember 2014 (II) / John, Barbara: Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet, 2014, Herder Verlag.
Dass in Deutschland eine Terrortruppe innerhalb von 10 Jahren 10 Menschen ermorden, drei Bombenanschläge und 15 Banküberfälle verüben konnte, ist unfassbar. Dieses Buch schildert die Ereignisse aus der Sicht der nächsten Angehöroigen der Opfer. Die erzählen von ihren Erfahrungen mit den ermittelnden Behörden, recherchierenden JournalistInnen und angeblich mitfühlenden PolitikerInnen. Ein Armutszeignis und ein lauter Ruf nach Aufklärung. Ein Auszug: “In den folgenden Tagen hat die Polizei meine Wohnung auf den Kopf gestellt. Geschirr ging kaputt, die Wände waren mit Pulver beschmiert, um Fingerabdrücke zu suchen, alles war durcheinander. Meine Mutter und ich wurden immer wieder vernommen. Man hat meine Fingerabsrücke genommen und mir schließlich ein Schild umgehängt mit einer Nummer drauf und ein Foto gemacht (…) Sie haben mich behandelt wie eine Mörderin.”
Dezember 2014 (I) / Maalouf, Armin: Der heilige Krieg der Barbaren, Die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber. Eugen Diederichs Verlag, 1996, München.
“Maalouf schont niemanden, weder die fanatisierten Christen noch die oft zerstrittenen und zögerlichen Muslime, denen freilich viel größere Sympathie entgegengebracht wird. Des Menschen Größe und Niedrigkeit – unter diesem Nenner könnte man diese zwei Jahrhunderte nahöstlicher Politik, die allerdings tief in die Geschichte beider Kulturkreise hineingewirkt haben, zusammenfassen. Seltener Edelmut und Toleranz kontrastierten mit häufig bewiesener Bestialität, Größe des Glaubens mit dumpfestem Aberglauben.” (Quelle: FAZ)
November 2014 (II) / Kemper, Andreas; Weinbach, Heike: Klassismus – Eine Einführung”, 2009, Unrast-Verlag.
Diskriminierung wird oft eindimensional verstanden. Jemand ist entweder schwarz oder dick oder Türke oder Frau. Der Klassismusbegriff fügt diese Linien zusammen. Was ist mit schwarzen Frauen? Ertragen diese nicht mehr Diskriminierung als weiße Frauen? Wo liegen die Konfliktlinien? Dieses Buch eröffnet erhellende Perspektiven, den Diskriminierung ist immer mehrdimensional.
November 2014 (I) / Miller, Alice: “Abbruch der Schweigemauer” 2003, Suhrkamp Taschenbuch Verlag.
Zitat: “Hitler kam, wie jedes Kind, unschuldig zur Welt, wurde von seinen Eltern, wie viele andere Kinder damals, destruktiv erzogen, und später hat er sich selbst zum Monster gemacht. Er war Überlebender einer Vernichtungsmaschinerie, die im Deutschland der Jahrhundertwende »Erziehung« genannt wurde und die ich als das verborgene KZ der Kindheit bezeichne, das nie erkannt werden darf.”
Oktober 2014 (II) / Jelinek, Elfriede: “Die Ausgesperrten” 1985, Rowohlt Taschenbuch.
Vier Freunde, die losziehen, um PassantInnen mit rücksichtsloser Gewalt auszurauben. Elfriede Jelinek zeigt deren familiäre Verhältnisse, ihre Gedanken, Hoffnungen und enttäuschte (Alp-)Träume in schonungsloser Offenheit. Meisterhaft. Hier die Beschreibung Jelineks eines Hallenbadzustands: “Man genießt die Sauberkeit, die noch durch den intensiven Chlorgeruch verstärkt ist, der sagt, ich töte alle Bazillen und Keime in mir vollständig ab. Nur vereinzeltes Sperma oder Lulu muß ich leider dem Filter überlassen. Auch unter die Hautoberfläche vermag ich nicht zu dringen, um dort den Haß und den Ekel abzutöten, die die jungen Menschen empfinden. Das Wasser schwappt in seinem ihm zugedachten Rahmen aus Porzellan hin und her, nur heraustreten kann es nicht aus seiner Umhüllung. Wie man ja auch nicht aus seiner Haut herauskann.”
Oktober 2014 (I) / Welzer, Harald: “Selber denken – Eine Anleitung zum Widerstand”, 2013, Fischer Verlag.
Beschimpfung und Auklärung; die Leserschaft dieses Buches muss einige unangenehme Wahrheiten ertragen (lernen). Aber es lohnt sich. In interessanten Geschichten und Anekdoten erzählt Harald Welzer hier Geschichten “Jenseits des Wachstums”, rechent mit “greenwashing” ab und gibt einen Tipp, der intellektuell nachhaltigen Ertrag verspricht: “Selber denken!” anstatt sich außen aus Bequemlichkeit infantilisieren zu lassen. Ein Buch gegen Hyperkonsum, Gier und die ökologische Ausbeutung des Planeten. Lesenswert.
September 2014 (II) / Frisch, Max: “Andorra”, 1975, Suhrkamp.
“Sich von jemandem ein Bild machen”; das ist eine Redewendung, die mich, seit ich “Andorra” kenne zusammenzucken lässt. “Weil du Jud bist”, “weil du Frau bist”, “weil du schwarz bist”; solche Zuschreibungen und Aberkennungen von Talenten sind es, die das ausgrenzende wesen von Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und Antiziganismus ausmachen. Hätte ich Andorra nicht gelesen, würde ich das heute nicht so klar erkennen. Danke, Max Frisch.
September 2014 (I) / Defoe, Daniel: “Robinson Crusoe”, Amsterdam-Ausgabe aus dem Jahre 1726, Winkler-Verlag.
“Um mein Aussehen brauchte ich mich nicht viel zu kümmern, es war völlig belanglos, und so möchte ich auch nichts weiter darüber sagen.” (Robinson Crusoe, Teil I) Ich habe das Buch gerne gelesen. Es ist abenteuerliche Unterhaltung auf hohem Niveau. Allerdings störte mich die Haltung, die Robinson gegenüber Freitag, annimmt bzw. die der Autor Robinson gegenüber Freitag annehmen lässt. Auf einer einsamen Insel erzieht ein Europäer einen Eingeborenen, gibt ihm wie einem Hund einen Namen und konvertiert ihn zum christlichen Glauben. Heutzutage könnte man dies getrost als rassistisch bezeichnen. Früher war das unerhört tolerant, weil Crusoe das Menschsein Freitag nicht abspricht, sondern ihn als Menschen zunehmend anerkennt.
August 2014 (II) / Hornby, Nick: “31 Songs”, 2003, Verlag Kiepenheuer und Witsch.
Ich bin ein Fan des Feuilleton. Wenn also jemand ein Buch schreibt über seine Lieblingssongs, die Texte gut geschrieben sind und noch dazu Persönliches und Hintergrundinformationen über den Autor und die Popgruppen enthalten, dann will ich das lesen. Wer wissen will, warum „I’m like a bird“ von Nelly Furtano und „Smoke“ von Ben Folds Five absolut hörenswert sind, lese dieses Buch und höre danach die Songs dazu, was riesig Spaß macht, wie ich finde.
August 2014 (I) / Updike, John: “Wie war´s wirklich”, 2004, Rowohlt Verlag.
Ich mag gute Kurzgeschichten, weil sie sich für meinen Literaturabend eignen und in kurzer Zeit eine starke Wirkung entfalten. Sie sind so zusagen literarisch effizient. Updike hat eine fülle von solchen magischen Momenten geschrieben. Ein paar davon finden sich in diesem Erzählband. Aber Vorsicht, er ist nichts für verliebte IdealistInnen. Eher was für Leute, die gerne hinter die Fassaden bürgerlicher Wohlanständigkeit blicken.
Juli 2014 (II) / Hacke, Axel: “Deutschlandalbum”, 2005, Kunstmann Verlag.
Ja, der Axel und seine Kolumnen und Momentaufnahmen. An diesem Buch konnte ich in der Stadtbücherei nicht vorbei gehen; auch wenn mich Bücher die der Frage „Was ist deutsch?“ nachgehen, eher abschrecken. Mit „Deutschlandalbum“ ist Hacke ein mit Geschichten illustriertes Reisebuch gelungen, das zu Herzen rührt. Absolut lesenswert.
Juli 2014 (I) / Paech, Niko: “Befreiung vom Überfluss”, 2012, Oekom Verlag.
Bei AnhängerInnen der „Ich esse was ich will“ – und „Nach mir die Sintflut“-Fraktion hat sich der Umweltökonom Niko Paech mit diesem Buch unbeliebt gemacht. Eine Streitschrift darüber, wie weit Freiheit gehen darf, die Vorteile der „Postwachstumsökonomie“ und die politischen Weichenstellungen, welche die Ausbeutung des Planeten Erde zumindest nachhaltig begrenzen könnten.
Juni 2014 (II) / Schneidewind/Zahrnt (Hg.): “Damit gutes Leben einfacher wird”, 2013, Oekom Verlag.
Entrümpelung, Entflechtung, Entschleunigung und Entkommerzialisierung; das sind nur einige Tipps aus diesem sehr lesenswerten Buch. Hier gilt: „Weniger ist mehr!“ Zum Wohle der Umwelt und des persönlichen Glücks.

Juni 2014 (I) / Antunes, António Lobo: “Das Handbuch der Inquisitoren”, 1997, Luchterhand Verlag.
Wenn eine Diktatur endet, bleibt Düsteres zurück. Lobo Antunes verarbeitet diese Relikte in obsessiven Dialogen und legt die Schande schonungslos offen. Surrealistisch Kritik des Autoritären. Die Eliten, die von der Unterdrückung der Bevölkerung profitierten und die Passivität eines den eigenen Vorteil erhaschenden Bürgertums, stehen hier eindrucksvoll und genial vor Gericht.

Mai 2014 (II) / Kehlmann, Daniel: “Unter der Sonne”, 1998, Deutike Verlag.
Über Menschen, die ihrem Alltag entfliehen (wollen) und in außergewöhnliche Situationen geraten; darüber handelt dieser Erzählband. So unterschiedlich die Menschen, so unterschiedlich die Reaktionen. Erfahrung bedeutet Wachstum.

Mai 2014 (I) / Roth, Philip: „Verschwörung gegen Amerika”, 2007, Rowolt Taschenbuch Verlag.
Was wäre wenn? Viele Bücher beschäftigen sich mit dieser Frage. Philip Roth fragt in seinem Buch „Was wäre gewesen, wenn?“ Was wäre (vielleicht) gewesen, wenn Charles Lindbergh im Jahr 1940 die Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewonnen hätte? Am Beispiel einer jüdischen Familie zeigt der berühmte US-amerikanische Autor auf, wie der Antisemitismus, den Lindbergh verkörpert, erst kaum merklich und dann mit Wucht um sich greift. Die Außenpolitik der USA gegenüber Hitler ändert sich und die USA schließen mit Nazideutschland einen Nicht-Angriffspakt.

März 2014 (II) / Haffner, Sebastian: „Geschichte eines Deutschen – Die Erinnerungen 1914 – 1933″, 2000, Deutsche Verlags-Anstalt.
In diesem Buch gibt es eine Szene, an die ich manchmal denken muss, wenn ich die Stadtbibliothek betrete. Haffner ist noch Jurastudent und lernt in einer Bibliothek als SA-Männer lautstark das Gebäude betreten und anfangen die Juden aus der Bibliothek zu werfen. Ein SA-Mann baut sich vor Haffner auf und fragt: „Sind die arisch?“ Und Haffner antwortet „Ja.“ In den Buch heißt es dann weiter: „Ich empfand einen Augenblick zu spät die Blamage, die Niederlage. Ich hatte ja gesagt! Nun ja, ich war ein Arier in Gottes Namen. Ich hatte nicht gelogen. Ich hatte nur viel Schlimmeres geschehen lassen. Welche Demütigung Fremden auf Befragen pünktlich zu erklären, ich sei arisch – worauf ich übrigens keinen Wert legte. Welche Schande, damit zu erkaufen, dass ich hier hinter meinem Aktenstück in Frieden gelassen würde! Überrumpelt auch jetzt noch! Versagt in der ersten Prüfung! Ich hätte mich ohrfeigen können.“ Auch das literarische Quartett beschäftigte sich mit der “Geschichte eines Deutschen”. Sehr sehenswert, wie ich finde.

März 2014 (I) / Knoflacher, Hermann: „Virus Auto – Die Geschichte einer Zerstörung”, 2009, Ueberreuter Verlag.
Für Hermann Knoflacher ist das Auto ein Virus, der sich im Gehirn des Wirtes Mensch eingenistet hat. Dieser Virus sorge dafür, dass die Städte nicht nach den Bedürfnissen der Menschen, sondern den Bedürfnissen des Autos geformt werden – und zwar mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Steigende Umweltverschmutzung, hoher Ressourcenverbrauch, Gefährdung sozialer Beziehungen, die Verdrängung des öffentlichen Nahverkehrs, die Unwirtlichkeit unserer Städte, Gesundheitsrisiken, zahlreiche Unfallopfer; was für den Einzelnen ein Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit ist, ist für Knoflacher eine Geisel der Menschheit. Wer dieses Buch gelesen hat, sieht seine Stadt mit anderen Augen und lässt das Auto erst mal stehen.
Februar 2014 (II) / Wolf, Christa: „Störfall – Nachrichten eines Tages”, 1987, Aufbau-Verlag.
Wenn ein Atomkraftwerk explodierte und eine gefährliche Wolke dei Welt bedroht; was denkt man dann? Wie sieht der Alltag aus? Wie definiert danach Fortschritt? Betrachtung von tiefer Intensität finden sich in dieser vielschichtigen Erzählung.
Zitat aus der Erzählung: “Wie merkwürdig, dass A-tom auf griechisch das gleiche heißt wie In-dividuum auf lateinisch: unspaltbar. Die diese Wörter erfanden, haben weder die Kernspaltung noch die Schizophrenie gekannt.”

Februar 2014 (I) / Krysmanski, Hans-Jürgen: „0,1 % – Das Imperium der Milliardäre“, 2012, Westend Verlag.
Wenn man „0,1 Prozent“ liest, hat man unweigerlich das Gefühl, dass das Privatleben der Superreichen für das eigene Dasein eine größere Rolle spielt, als die Entscheidungen der eigenen Regierung. „Ein amerikanischer Präsident ist wahrscheinlich billiger zu haben als eine ordentliche Siebzig-Meter-Luxusmotorenjacht“, schreibt Krysmanski trocken. Der Soziologe stellt klar: Du kannst noch so geistreich, schön, edel und gut sein; der Reiche ist immer geistreicher, schöner, edler und besser, einfach weil sein Geld ihn stets aufwertet. Er selbst muss keine Eigenschaften haben, denn der Reiche kann Menschen mieten, die sie besitzen.

Januar 2014 (II) / Achebe, Chinua: Heimkehr in fremdes Land, 2002, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.
Ein junger Nigerianer kehrt nach seinem Studium in England in seine Heimat zurück. Doch seine Ideale zerschellen an der Korruption und verkrusteten Traditionen.
Zitat aus dem Roman: “Ein Universitätsabschluss war der Stein der Weisen. Er verwandelte einen drittklassigen Angestellten mit hundertfünfzig Pfund im Jahr in einen Beamten im höheren Staatsdienst mit Dienstwagen und einer luxuriös eingerichteten Wohnung für lächerlich geringe Miete. Und diese Kluft, was Gehalt und Vergünstigungen anbelangte, besagte noch längst nicht alles. Einen europäischen Posten zu bekleiden war fast so gut, wie selbst ein Europäer zu sein. Es ließ einen Mann aus der Masse in eine Elite aufsteigen, deren small talk auf den Cocktailpartys sich nur um eine Frage drehte: Was macht dein Auto?”
Januar 2014 (I) / Abe, Kobo: Das Gesicht des Anderen, 1992, Eichborn Verlag, Frankfurt a. M.
Ein Wissenschaftler, der sein Gesicht durch einen Unfall verloren hat, schafft sich ein neues Gesicht. Sein Ziel: er will als Fremder seine eigene Ehefrau verführen. Ein Lehrstück über Haut, Gesichter und Masken. Erinnert an Max Frisch und Kafka. Grandios.
Zitat aus dem Roman: “Die Qual des Eingesperrtseins liegt ja darin, dass man sich selber in keinem Augenblick entrinnen kann. Auch ich fühlte mich in mein Ich eingeschlossen wie in einem Sack und versuchte mich verzweifelt, mich herauszuwinden.”
Dezember 2013 (II) / Lenz, Siegfried: Stadtgespräch, 1. Auflage 1965, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg.
Eine Geschichte über eine besetzten Stadt, eine Geiselnahme und über die Frage, wie weit der Widerstand gegen eine Besatzungsmacht gehen darf. Lenz wirft letztlich auch die Frage auf, was von der Wahrheit des Kriegsalltags in der Nachkriegszeit übrig bleibt.
Zitat aus dem Roman: „Wir sind alle Gefangene, jeder lebt in seinem Gefängnis: der eine mit, der andere ohne Wächter. Auch du bist in deinem Gefängnis, das sehe ich wohl und ich glaube auch zu verstehen, dass jeder Ausbruch nur in eine andere Gefangenschaft mündet. Deshalb unterwerfen wir uns lieber, denn jede Unterwerfung sichert und das Gleichgewicht.“ (Daniel)

Dezember 2013 (I) / Ledig, Gerd: Vergeltung, 1. Auflage 1956, Suhrkamp Verlag, Frankfurt.
Die Geschichte einer Bombennacht. Der blanke Horror in einer eindringlichen Sprache, welche die Leserschaft mitten auf die Straße für. Eine schreckliche Mahnung, deren Effekt dadurch gesteigert wird, dass auch die Bombenopfer selbst zu Wort kommen und aus ihrem Leben erzählen.
Zitat aus dem Roman: “Als die erste Bombe fiel, schleuderte der Luftdruck die toten Kinder gegen die Mauer. Sie waren vorgestern in einem Keller erstickt. Man hatte sich auf dem Friedhof gelegt, weil ihre Väter an der Front kämpften und man ihre Mütter erst suchen musste. Man fand nur noch eine. Aber die war unter den Trümmern zerquetscht. So sah die Vergeltung aus.”