Demokratie statt Sperrklausel

„Tatsächliche Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments sind derzeit nicht abzusehen, so dass für die Prognose des Gesetzgebers, es drohe ohne die Drei-Prozent-Sperrklausel eine Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlaments, die Grundlage fehlt.“ Auszug aus der Pressemitteilung Nr. 14/2014 des Bundesverfassungsgerichts zum Sperrklauselurteil:

Wenn die Wahlen nicht so ausgehen, wie man sich das wünscht, dann muss man das Wahlsystem so ändern, dass es passt.

 

Nun erhebt sich die Forderung nach der (Wieder-) Einführung einer Sperrklausel bei der EU-Parlamentswahl, damit kleine Parteien den Einzug verpassen. Ich halte nichts davon. Weder der Einzug von rechten Kräften, noch von sogenannten „Spaßparteien“ kann als Legitimation für den Ausschluss von Kleinstparteien – und dem faktischen verbrennen von über hunderttausend abgegebener Stimmen – herangezogen werden. Es ist nicht die Aufgabe der Wählerinnen und Wähler es den Mehrheitsparteien in den Parlamenten bequem zu machen und sie mit eindeutigen Mehrheiten auszustatten, sondern es ist die Aufgabe der Politik mit der Abbildung des Wählerinnen- und Wählerwillens umzugehen und das beste daraus zu machen. Ziel des Wahlrechts sollte es sein, die Interessen der Menschen abzubilden und nicht etablierte Mehrheitsparteien zu stabilisieren. Dass SpitzenpolitikerInnen von Mehrheitsparteien, diese Ausgrenzung vorschlagen, überrascht mich nicht im Geringsten; festigen Sie nicht so auch ihre eigene Macht. Das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland wurden unter anderem auch deshalb geschaffen, um derartige Eingriffe in das Wahlrecht zugunsten Dritter zu unterbinden.

Und es überrascht mich auch nicht, dass nun wieder unqualifizierte und unreflektierte Weimarer Republik-Vergleiche nach dem Motto „Ohne die Hürde fallen wir wieder in den Nationalsozialismus zurück“ angeführt werden und die Runde machen. Diese sind meiner Meinung nach 1. aufgrund der aktuellen politischen und ökonomischen Situation in Deutschland und Europa falsch und (wen wundert es?) meist prophetisch angelegt, also kaum überprüfbar und 2. sowieso falsch, weil die Weimarer Republik nur bedingt an einer Prozenthürde gescheitert ist. Da muss man schon blind und geschichtsvergessen viele weitere Ursachen ausblenden, um diese Meinung zu vertreten.

Dass die Menschen auch kleine Parteien wählen, ihnen eine Chance geben wollen oder diese Möglichkeit nutzen, um protestierend die „großen“ Parteien zu kritisieren oder gar neue Impulse innerhalb des politischen Systems zu setzen, ist mehr als nachvollziehbar, Ausdruck einer verständlichen Unzufriedenheit und besser als wenn die Menschen, was eine Sperrklausel begünstigen würde, beginnen würden, strategisch nach Umfragen abzeichnenden Mehrheitsvarianten zu wählen. Es lässt tief blicken, dass viele Kommentatorinnen und Kommentatoren des Ausgangs der Europawahl einzelne Parteien heranziehen um an deren Wahlerfolg die Sinnhaftigkeit einer Prozenthürde zu beweisen und offenbart eher politisches Kalkül als die Sorge um den Zustand der europäischen Demokratie. Dass wir nun zahlreiche Kleinstparteien im EU-Parlament haben, ist auch nicht die Schuld des Bundesverfassungsgerichts. Es ist schlicht die Antwort der Wählerinnen und Wähler auf die Welt, die sie vorfinden. Jeder und jede sollte die Partei wählen dürfen, die auf dem Boden der Verfassung stehen und er oder sie für richtig hält – und zwar ohne Angst davor, dass diese an einer Mauer zerschellt.

Weitere Auszüge aus der Begründung des Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sperrklausel bei der Wahl des Europaparlaments:

„Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit, der sich für die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus Art. 3 Abs. 1 GG ergibt, sichert die vom Demokratieprinzip vorausgesetzte Egalität der Bürger und ist eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung. Aus diesem Grundsatz folgt, dass die Stimme eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Bei der Verhältniswahl verlangt dieser Grundsatz darüber hinaus, dass jeder Wähler mit seiner Stimme auch den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben muss, denn Ziel des Verhältniswahlsystems ist es, dass alle Parteien in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis in dem zu wählenden Organ vertreten sind.“

 

„Der aus Art. 21 Abs. 1 GG abzuleitende Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien verlangt, dass jeder Partei grundsätzlich die gleichen Möglichkeiten im gesamten Wahlverfahren und damit gleiche Chancen bei der Verteilung der Sitze eingeräumt werden.“

 

„Mit einer rein vorsorglich statuierten Sperrklausel würde der schwerwiegende Eingriff in die Wahlrechtsgleichheit in unverhältnismäßiger Weise vorverlagert.“

 

„Die Ausgestaltung des Wahlrechts unterliegt einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Dies folgt aus der generellen Erwägung, dass die parlamentarische Mehrheit mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt. Aus diesem Grunde kann die verfassungsgerichtliche Kontrolle auch nicht durch Zubilligung von weitgehend frei ausfüllbaren Prognosespielräumen zurückgenommen werden.“

 

„Es würde auch der Offenheit des politischen Prozesses nicht gerecht, der für die parlamentarische Debatte gerade im Hinblick auf mögliche Umstrukturierungen wesentlich ist und zu dem kleine Parteien einen wichtigen Beitrag leisten können.“

 

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Ein Kommentar

  1. Bisher scheint darüber nur im “alles oder nichts”-Modus diskutiert zu werden. Es gibt eine bessere (d.h. rechtlich leicht durchsetzbare) Möglichkeit als die komplette Abschaffung der Sperrklausel:

    http://www.hauke-laging.de/ideen/abgeordnete_ohne_stimmrecht/

    Ich halte die aktuelle Handhabung der Sperrklausel für offensichtlich rechtswidrig, weil die vom BVerfG akzeptierten Gründe lediglich den Ausschluss von Abstimmungen rechtfertigen, nicht aber den kompletten
    Ausschluss von der Parlamentsarbeit, der somit aus einer ganzen Reihe von Gründen eine *nicht gerechtfertigte* massive Verletzung der Rechte von Wählern und Parteien darstellt (wie das BVerfG in seinen Urteilen selber ausführt, kann man direkt zitieren).

    Besonderes Augenmerk verdient dabei die Betrachtung der Wahlaussichten bei der Folgewahl. Der gravierende Unterschied in der politischen Arbeitsfähigkeit zwischen Parteien mit 5,0% und 4,9%, der sich aus dem status quo ergibt, ist von großer Bedeutung für den Ausgang der
    Folgewahl, was sehr problematisch ist: Parteien halten sich damit Konkurrenz vom Hals. Der Gesetzgeber ist naturgemäß in dieser Frage nicht neutral, was die rechtlichen Anforderungen an den Parlamentsausschluss noch verschärft.

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